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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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Vom Nutzen der Physiognomik.


Furchtbar ist die Physiognomik dem Laster! Laßt physiognomischen Sinn erwachen, und
wirken in den Menschen, und da stehen sie gebrandmarkt die Kammern und Consistoria und Klö-
ster und Kirchen voll heuchlerischer Tyranney, Geizhälse, Schmeerbäuche und Schälke u. s. f. die
unter der Larve der Religion ihre Schande, und Vergifter der menschlichen Wohlfahrt waren.

Abfallen, wie welkes Herbstlaub, wird alle Ehrfurcht, Hochachtung und Zuneigung, die
das betrogene Volk zu ihnen hatte. Man wird empfinden lernen, daß es Lästerung sey, solche be-
daurungswürdige Figuren für Heilige, für Säulen der Kirche und des Staats, für Menschen-
freunde und Religionslehrer zu halten.



Jndem ich dieses schreibe, erhielt ich ein Theil meines Manuscriptes aus den Händen des
Censors zurück. Dieser überaus scharfsichtige Mann hat die Gütigkeit, sich unter seine Würde
gegen mich herabzulassen, und mir einige sehr feine Einwendungen und wichtige Anmerkungen mit-
zutheilen, die ich, mit seiner Erlaubniß, an gehörigen Orten, größtentheils anzuführen, mir die
Freyheit nehmen werde. -- Unter diesen Anmerkungen befindet sich eine, die gerade hieher gehört:
"wenn es möglich wäre," sagt dieser eben so kluge als philosophische Kopf, "diese Wissenschaft zu
"ihrer Evidenz und Stärke durchzuführen, so würde ich einen erstaunlichen Nutzen daraus prophe-
"zeyen. Jch sage von dem erhabenen Nutzen nichts, von welchem Sie reden. -- Jch vermuthe; es
"würde ein thätiges Mittel seyn, das Laster auszurotten, oder doch einzuschränken und zu vermindern.
"Wenn wir einmal die Characteristik kennten, einmal den überwiegenden moralischen Hang eines
"Menschen in seinen Gesichtszügen eingeprägt sehen könnten; ja wenn es unter das gemeine Volk
"käme, daß man das Laster im Gesicht erkennen könne; daß in einer jeden Stadt nur zwo Perso-
"nen, nur zween Gelehrte seyn, die dieses können; wie sehr würde das Laster erschrecken? Auch
"der determinirte Bösewicht will nicht lasterhaft scheinen, zum wenigsten, nicht heißen. Wie
"viele blos zufällig, blos aus Unbedachtsamkeit und Leichtsinn Lasterhafte, die sich vor Gott,
"und den Jdeen von Gott nicht scheuen, würden sich vor dem Auge des Beobachters scheuen;
"würden in sich selbst gehen, ihre Unarten besiegen; -- um mit einem tugendhaftern Gesichte
"zu erscheinen?" --

Es
Phys. Fragm. I. Versuch. Y
Vom Nutzen der Phyſiognomik.


Furchtbar iſt die Phyſiognomik dem Laſter! Laßt phyſiognomiſchen Sinn erwachen, und
wirken in den Menſchen, und da ſtehen ſie gebrandmarkt die Kammern und Conſiſtoria und Kloͤ-
ſter und Kirchen voll heuchleriſcher Tyranney, Geizhaͤlſe, Schmeerbaͤuche und Schaͤlke u. ſ. f. die
unter der Larve der Religion ihre Schande, und Vergifter der menſchlichen Wohlfahrt waren.

Abfallen, wie welkes Herbſtlaub, wird alle Ehrfurcht, Hochachtung und Zuneigung, die
das betrogene Volk zu ihnen hatte. Man wird empfinden lernen, daß es Laͤſterung ſey, ſolche be-
daurungswuͤrdige Figuren fuͤr Heilige, fuͤr Saͤulen der Kirche und des Staats, fuͤr Menſchen-
freunde und Religionslehrer zu halten.



Jndem ich dieſes ſchreibe, erhielt ich ein Theil meines Manuſcriptes aus den Haͤnden des
Cenſors zuruͤck. Dieſer uͤberaus ſcharfſichtige Mann hat die Guͤtigkeit, ſich unter ſeine Wuͤrde
gegen mich herabzulaſſen, und mir einige ſehr feine Einwendungen und wichtige Anmerkungen mit-
zutheilen, die ich, mit ſeiner Erlaubniß, an gehoͤrigen Orten, groͤßtentheils anzufuͤhren, mir die
Freyheit nehmen werde. — Unter dieſen Anmerkungen befindet ſich eine, die gerade hieher gehoͤrt:
„wenn es moͤglich waͤre,“ ſagt dieſer eben ſo kluge als philoſophiſche Kopf, „dieſe Wiſſenſchaft zu
„ihrer Evidenz und Staͤrke durchzufuͤhren, ſo wuͤrde ich einen erſtaunlichen Nutzen daraus prophe-
„zeyen. Jch ſage von dem erhabenen Nutzen nichts, von welchem Sie reden. — Jch vermuthe; es
„wuͤrde ein thaͤtiges Mittel ſeyn, das Laſter auszurotten, oder doch einzuſchraͤnken und zu vermindern.
„Wenn wir einmal die Characteriſtik kennten, einmal den uͤberwiegenden moraliſchen Hang eines
„Menſchen in ſeinen Geſichtszuͤgen eingepraͤgt ſehen koͤnnten; ja wenn es unter das gemeine Volk
„kaͤme, daß man das Laſter im Geſicht erkennen koͤnne; daß in einer jeden Stadt nur zwo Perſo-
„nen, nur zween Gelehrte ſeyn, die dieſes koͤnnen; wie ſehr wuͤrde das Laſter erſchrecken? Auch
„der determinirte Boͤſewicht will nicht laſterhaft ſcheinen, zum wenigſten, nicht heißen. Wie
„viele blos zufaͤllig, blos aus Unbedachtſamkeit und Leichtſinn Laſterhafte, die ſich vor Gott,
„und den Jdeen von Gott nicht ſcheuen, wuͤrden ſich vor dem Auge des Beobachters ſcheuen;
„wuͤrden in ſich ſelbſt gehen, ihre Unarten beſiegen; — um mit einem tugendhaftern Geſichte
„zu erſcheinen?“ —

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[161/0229] Vom Nutzen der Phyſiognomik. Furchtbar iſt die Phyſiognomik dem Laſter! Laßt phyſiognomiſchen Sinn erwachen, und wirken in den Menſchen, und da ſtehen ſie gebrandmarkt die Kammern und Conſiſtoria und Kloͤ- ſter und Kirchen voll heuchleriſcher Tyranney, Geizhaͤlſe, Schmeerbaͤuche und Schaͤlke u. ſ. f. die unter der Larve der Religion ihre Schande, und Vergifter der menſchlichen Wohlfahrt waren. Abfallen, wie welkes Herbſtlaub, wird alle Ehrfurcht, Hochachtung und Zuneigung, die das betrogene Volk zu ihnen hatte. Man wird empfinden lernen, daß es Laͤſterung ſey, ſolche be- daurungswuͤrdige Figuren fuͤr Heilige, fuͤr Saͤulen der Kirche und des Staats, fuͤr Menſchen- freunde und Religionslehrer zu halten. Jndem ich dieſes ſchreibe, erhielt ich ein Theil meines Manuſcriptes aus den Haͤnden des Cenſors zuruͤck. Dieſer uͤberaus ſcharfſichtige Mann hat die Guͤtigkeit, ſich unter ſeine Wuͤrde gegen mich herabzulaſſen, und mir einige ſehr feine Einwendungen und wichtige Anmerkungen mit- zutheilen, die ich, mit ſeiner Erlaubniß, an gehoͤrigen Orten, groͤßtentheils anzufuͤhren, mir die Freyheit nehmen werde. — Unter dieſen Anmerkungen befindet ſich eine, die gerade hieher gehoͤrt: „wenn es moͤglich waͤre,“ ſagt dieſer eben ſo kluge als philoſophiſche Kopf, „dieſe Wiſſenſchaft zu „ihrer Evidenz und Staͤrke durchzufuͤhren, ſo wuͤrde ich einen erſtaunlichen Nutzen daraus prophe- „zeyen. Jch ſage von dem erhabenen Nutzen nichts, von welchem Sie reden. — Jch vermuthe; es „wuͤrde ein thaͤtiges Mittel ſeyn, das Laſter auszurotten, oder doch einzuſchraͤnken und zu vermindern. „Wenn wir einmal die Characteriſtik kennten, einmal den uͤberwiegenden moraliſchen Hang eines „Menſchen in ſeinen Geſichtszuͤgen eingepraͤgt ſehen koͤnnten; ja wenn es unter das gemeine Volk „kaͤme, daß man das Laſter im Geſicht erkennen koͤnne; daß in einer jeden Stadt nur zwo Perſo- „nen, nur zween Gelehrte ſeyn, die dieſes koͤnnen; wie ſehr wuͤrde das Laſter erſchrecken? Auch „der determinirte Boͤſewicht will nicht laſterhaft ſcheinen, zum wenigſten, nicht heißen. Wie „viele blos zufaͤllig, blos aus Unbedachtſamkeit und Leichtſinn Laſterhafte, die ſich vor Gott, „und den Jdeen von Gott nicht ſcheuen, wuͤrden ſich vor dem Auge des Beobachters ſcheuen; „wuͤrden in ſich ſelbſt gehen, ihre Unarten beſiegen; — um mit einem tugendhaftern Geſichte „zu erſcheinen?“ — Es Phyſ. Fragm. I. Verſuch. Y

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/229>, abgerufen am 12.05.2024.