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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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XIII. Fragment.
betenswürdigen Urheber der menschlichen Natur, der so unaussprechlich viel Wahrheit und Har-
monie in dieselbige gelegt hat, in neuen Liebenswürdigkeiten zu erblicken. Wo das stumpfe, das
ungeübte Auge des Unaufmerksamen nichts vermuthet, da entdeckt das geübte des Gesichtkenners,
unerschöpfliche Quellen des geistigsten, sittlichsten und zärtlichsten Vergnügens. Nur er versteht
die schönste, beredteste, richtigste, unwillkührlichste und bedeutungsvolleste aller Sprachen, die
Natursprache des moralischen und intellectuellen Genies; die Natursprache der Weisheit und Tu-
gend. Er versteht sie im Gesichte derjenigen, die selbst nicht wissen, daß sie dieselbe sprechen. Er
kennet die Tugend, so versteckt sie immer seyn mag. Mit geheimer Entzückung durchdringt der
menschenfreundliche Physiognomist das Jnnere eines Menschen, und erblickt da die erhabensten
Anlagen, die sich vielleicht erst in der zukünftigen Welt entwickeln werden. Er trennt das Feste
in dem Character von dem Habituellen, das Habituelle von dem Zufälligen. Mithin beurtheilt
er den Menschen richtiger: er beurtheilt ihn blos nach sich selbst.

Jch kann das Vergnügen nicht beschreiben, das ich so oft, das ich beynahe täglich em-
pfinde, wenn ich unter einem Haufen unbekannter Menschen -- Gesichter erblicke, die, wenn ich
so sagen darf, das Siegel Gottes auf ihrer Stirne tragen! wenn ein Fremder in mein Zimmer
tritt, dessen Gesicht mich durch seine leuchtende Redlichkeit, seinen triumphirenden Verstand sogleich
ergreift! -- Wie da Menschenseligkeit gefühlt, Sinn und Geist und Herz aufgeschlossen --
wie da Kraft gegen Kraft rege wird! wie da die Seele emporgetragen, begeistert, um einige
Stufen höher geführt wird! -- -- O -- du Menschen durch Menschen segnender Gott! -- Jn
einer solchen Stunde sollt ich vom Nutzen der Physiognomik schreiben!

Die Physiognomik reißt Herzen zu Herzen; sie allein stiftet die dauerhaftesten, die göttlich-
sten Freundschaften. Auf keinem unumstößlichern Grunde, keinem festern Felsen, kann die
Freundschaft ruhen, als auf der Wölbung einer Stirne, dem Rücken einer Nase, dem Umriß
eines Mundes, dem Blick eines Auges! --

Die Physiognomik ist die Seele aller Klugheit. Jndem sie das Vergnügen des Umgangs
über allen Ausdruck erhöhet, sagt sie zugleich dem Herzen, wo es reden und schweigen, warnen
und ermuntern, trösten und strafen soll.

Furcht-

XIII. Fragment.
betenswuͤrdigen Urheber der menſchlichen Natur, der ſo unausſprechlich viel Wahrheit und Har-
monie in dieſelbige gelegt hat, in neuen Liebenswuͤrdigkeiten zu erblicken. Wo das ſtumpfe, das
ungeuͤbte Auge des Unaufmerkſamen nichts vermuthet, da entdeckt das geuͤbte des Geſichtkenners,
unerſchoͤpfliche Quellen des geiſtigſten, ſittlichſten und zaͤrtlichſten Vergnuͤgens. Nur er verſteht
die ſchoͤnſte, beredteſte, richtigſte, unwillkuͤhrlichſte und bedeutungsvolleſte aller Sprachen, die
Naturſprache des moraliſchen und intellectuellen Genies; die Naturſprache der Weisheit und Tu-
gend. Er verſteht ſie im Geſichte derjenigen, die ſelbſt nicht wiſſen, daß ſie dieſelbe ſprechen. Er
kennet die Tugend, ſo verſteckt ſie immer ſeyn mag. Mit geheimer Entzuͤckung durchdringt der
menſchenfreundliche Phyſiognomiſt das Jnnere eines Menſchen, und erblickt da die erhabenſten
Anlagen, die ſich vielleicht erſt in der zukuͤnftigen Welt entwickeln werden. Er trennt das Feſte
in dem Character von dem Habituellen, das Habituelle von dem Zufaͤlligen. Mithin beurtheilt
er den Menſchen richtiger: er beurtheilt ihn blos nach ſich ſelbſt.

Jch kann das Vergnuͤgen nicht beſchreiben, das ich ſo oft, das ich beynahe taͤglich em-
pfinde, wenn ich unter einem Haufen unbekannter Menſchen — Geſichter erblicke, die, wenn ich
ſo ſagen darf, das Siegel Gottes auf ihrer Stirne tragen! wenn ein Fremder in mein Zimmer
tritt, deſſen Geſicht mich durch ſeine leuchtende Redlichkeit, ſeinen triumphirenden Verſtand ſogleich
ergreift! — Wie da Menſchenſeligkeit gefuͤhlt, Sinn und Geiſt und Herz aufgeſchloſſen —
wie da Kraft gegen Kraft rege wird! wie da die Seele emporgetragen, begeiſtert, um einige
Stufen hoͤher gefuͤhrt wird! — — O — du Menſchen durch Menſchen ſegnender Gott! — Jn
einer ſolchen Stunde ſollt ich vom Nutzen der Phyſiognomik ſchreiben!

Die Phyſiognomik reißt Herzen zu Herzen; ſie allein ſtiftet die dauerhafteſten, die goͤttlich-
ſten Freundſchaften. Auf keinem unumſtoͤßlichern Grunde, keinem feſtern Felſen, kann die
Freundſchaft ruhen, als auf der Woͤlbung einer Stirne, dem Ruͤcken einer Naſe, dem Umriß
eines Mundes, dem Blick eines Auges! —

Die Phyſiognomik iſt die Seele aller Klugheit. Jndem ſie das Vergnuͤgen des Umgangs
uͤber allen Ausdruck erhoͤhet, ſagt ſie zugleich dem Herzen, wo es reden und ſchweigen, warnen
und ermuntern, troͤſten und ſtrafen ſoll.

Furcht-
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[160/0228] XIII. Fragment. betenswuͤrdigen Urheber der menſchlichen Natur, der ſo unausſprechlich viel Wahrheit und Har- monie in dieſelbige gelegt hat, in neuen Liebenswuͤrdigkeiten zu erblicken. Wo das ſtumpfe, das ungeuͤbte Auge des Unaufmerkſamen nichts vermuthet, da entdeckt das geuͤbte des Geſichtkenners, unerſchoͤpfliche Quellen des geiſtigſten, ſittlichſten und zaͤrtlichſten Vergnuͤgens. Nur er verſteht die ſchoͤnſte, beredteſte, richtigſte, unwillkuͤhrlichſte und bedeutungsvolleſte aller Sprachen, die Naturſprache des moraliſchen und intellectuellen Genies; die Naturſprache der Weisheit und Tu- gend. Er verſteht ſie im Geſichte derjenigen, die ſelbſt nicht wiſſen, daß ſie dieſelbe ſprechen. Er kennet die Tugend, ſo verſteckt ſie immer ſeyn mag. Mit geheimer Entzuͤckung durchdringt der menſchenfreundliche Phyſiognomiſt das Jnnere eines Menſchen, und erblickt da die erhabenſten Anlagen, die ſich vielleicht erſt in der zukuͤnftigen Welt entwickeln werden. Er trennt das Feſte in dem Character von dem Habituellen, das Habituelle von dem Zufaͤlligen. Mithin beurtheilt er den Menſchen richtiger: er beurtheilt ihn blos nach ſich ſelbſt. Jch kann das Vergnuͤgen nicht beſchreiben, das ich ſo oft, das ich beynahe taͤglich em- pfinde, wenn ich unter einem Haufen unbekannter Menſchen — Geſichter erblicke, die, wenn ich ſo ſagen darf, das Siegel Gottes auf ihrer Stirne tragen! wenn ein Fremder in mein Zimmer tritt, deſſen Geſicht mich durch ſeine leuchtende Redlichkeit, ſeinen triumphirenden Verſtand ſogleich ergreift! — Wie da Menſchenſeligkeit gefuͤhlt, Sinn und Geiſt und Herz aufgeſchloſſen — wie da Kraft gegen Kraft rege wird! wie da die Seele emporgetragen, begeiſtert, um einige Stufen hoͤher gefuͤhrt wird! — — O — du Menſchen durch Menſchen ſegnender Gott! — Jn einer ſolchen Stunde ſollt ich vom Nutzen der Phyſiognomik ſchreiben! Die Phyſiognomik reißt Herzen zu Herzen; ſie allein ſtiftet die dauerhafteſten, die goͤttlich- ſten Freundſchaften. Auf keinem unumſtoͤßlichern Grunde, keinem feſtern Felſen, kann die Freundſchaft ruhen, als auf der Woͤlbung einer Stirne, dem Ruͤcken einer Naſe, dem Umriß eines Mundes, dem Blick eines Auges! — Die Phyſiognomik iſt die Seele aller Klugheit. Jndem ſie das Vergnuͤgen des Umgangs uͤber allen Ausdruck erhoͤhet, ſagt ſie zugleich dem Herzen, wo es reden und ſchweigen, warnen und ermuntern, troͤſten und ſtrafen ſoll. Furcht-

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/228>, abgerufen am 13.05.2024.