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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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der moralischen und körperlichen Schönheit.
es in Sumpf der Häßlichkeit, verwandelt sich gar bisweilen in Teufelsgestalten -- daß der
Menschenfreund nicht aufsehen darf vor Wehmuth! -- Laster, Leidenschaft, Unbändigkeit,
Sinnlichkeit, Unmäßigkeit, Habsucht, Faulheit, Schalkheit, Laster, Leidenschaft! welche
Gräßlichkeiten bringst du vor mein Gesicht! wie verunstaltest du meine Brüder! -- --

Nehmen wir noch dazu, was damit wesentlich verbunden ist, was aber, wenn's mög-
lich ist, an besondern Orten weitläufiger wird erwiesen werden; daß nicht nur das Angesicht,
nicht nur die weichen Theile desselben, nicht nur die festern, sondern daß das ganze Knochen-
system sammt seiner Befleischung -- daß alles, alles -- Figur und Gesichtsfarbe, und Stim-
me, und Gang, und Geruch -- alles am Menschen, im Verhältniß mit dem Angesichte --
verekelt, verschlimmert, oder verschönert werden kann; nehmen wir dieß dazu, machen wir un-
serer Einbildung hievon Gemälde; -- oder leider! gehen wir hin, Wirklichkeit zu schauen --
gehen hin, vergleichen ein Armenhaus, ein Zuchthaus, das eine Versammlung liederlicher,
vertrunkener, verlumpter Müßiggänger ist -- mit irgend einer besserdenkenden Brüderschaft --
so unvollkommen sie sey, so viel Menschliches auch noch an ihr sichtbar seyn mag -- mit einer
Versammlung von mährischen Brüdern, oder Mennoniten, oder -- nur mit einer
Zunft arbeitsamer Handwerksleute, welche lebendige Ueberzeugung wird uns das von unserer
Behauptung geben! Und dann mehr noch als nur hievon lebendige Ueberzeugung -- Es wird
Gefühle für uns und andere in uns erwecken, die, so traurig sie seyn mögen, so heilsam doch
sind; -- und diese sind mein Zweck.

Allein der Mensch ist nicht nur gemacht, daß er fallen kann; -- er kann auch wieder
zurücksteigen; er kann auch wohl höher steigen, als wovon er gefallen ist. Nehmt den häßlich-
sten Menschen diejenigen Kinder, die auch wirklich schon ausgedrücktes Ebenbild ihrer Aeltern
sind -- entreißt sie ihnen, und erzieht sie in einer öffentlichen wohleingerichteten und gut
exequirten Anstalt. Der Schritt, den auch die Schlimmsten zu ihrer Verschönerung gethan ha-
ben, wird in die Augen fallen. Setzet diese, wenn sie erwachsen sind, in Umstände, die ihnen
die Tugend wenigstens nicht zu schwer machen, wo sie keine außerordentliche Reizungen zum
Laster haben; und laßt sie sich unter einander heurathen; setzet den Fall, daß in allen wenig-
stens einiger Trieb nach Verbesserung fortwirke; daß nur einige Sorgfalt und Fleiß, eben nicht

der
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der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit.
es in Sumpf der Haͤßlichkeit, verwandelt ſich gar bisweilen in Teufelsgeſtalten — daß der
Menſchenfreund nicht aufſehen darf vor Wehmuth! — Laſter, Leidenſchaft, Unbaͤndigkeit,
Sinnlichkeit, Unmaͤßigkeit, Habſucht, Faulheit, Schalkheit, Laſter, Leidenſchaft! welche
Graͤßlichkeiten bringſt du vor mein Geſicht! wie verunſtalteſt du meine Bruͤder! — —

Nehmen wir noch dazu, was damit weſentlich verbunden iſt, was aber, wenn's moͤg-
lich iſt, an beſondern Orten weitlaͤufiger wird erwieſen werden; daß nicht nur das Angeſicht,
nicht nur die weichen Theile deſſelben, nicht nur die feſtern, ſondern daß das ganze Knochen-
ſyſtem ſammt ſeiner Befleiſchung — daß alles, alles — Figur und Geſichtsfarbe, und Stim-
me, und Gang, und Geruch — alles am Menſchen, im Verhaͤltniß mit dem Angeſichte —
verekelt, verſchlimmert, oder verſchoͤnert werden kann; nehmen wir dieß dazu, machen wir un-
ſerer Einbildung hievon Gemaͤlde; — oder leider! gehen wir hin, Wirklichkeit zu ſchauen —
gehen hin, vergleichen ein Armenhaus, ein Zuchthaus, das eine Verſammlung liederlicher,
vertrunkener, verlumpter Muͤßiggaͤnger iſt — mit irgend einer beſſerdenkenden Bruͤderſchaft —
ſo unvollkommen ſie ſey, ſo viel Menſchliches auch noch an ihr ſichtbar ſeyn mag — mit einer
Verſammlung von maͤhriſchen Bruͤdern, oder Mennoniten, oder — nur mit einer
Zunft arbeitſamer Handwerksleute, welche lebendige Ueberzeugung wird uns das von unſerer
Behauptung geben! Und dann mehr noch als nur hievon lebendige Ueberzeugung — Es wird
Gefuͤhle fuͤr uns und andere in uns erwecken, die, ſo traurig ſie ſeyn moͤgen, ſo heilſam doch
ſind; — und dieſe ſind mein Zweck.

Allein der Menſch iſt nicht nur gemacht, daß er fallen kann; — er kann auch wieder
zuruͤckſteigen; er kann auch wohl hoͤher ſteigen, als wovon er gefallen iſt. Nehmt den haͤßlich-
ſten Menſchen diejenigen Kinder, die auch wirklich ſchon ausgedruͤcktes Ebenbild ihrer Aeltern
ſind — entreißt ſie ihnen, und erzieht ſie in einer oͤffentlichen wohleingerichteten und gut
exequirten Anſtalt. Der Schritt, den auch die Schlimmſten zu ihrer Verſchoͤnerung gethan ha-
ben, wird in die Augen fallen. Setzet dieſe, wenn ſie erwachſen ſind, in Umſtaͤnde, die ihnen
die Tugend wenigſtens nicht zu ſchwer machen, wo ſie keine außerordentliche Reizungen zum
Laſter haben; und laßt ſie ſich unter einander heurathen; ſetzet den Fall, daß in allen wenig-
ſtens einiger Trieb nach Verbeſſerung fortwirke; daß nur einige Sorgfalt und Fleiß, eben nicht

der
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[75/0103] der moraliſchen und koͤrperlichen Schoͤnheit. es in Sumpf der Haͤßlichkeit, verwandelt ſich gar bisweilen in Teufelsgeſtalten — daß der Menſchenfreund nicht aufſehen darf vor Wehmuth! — Laſter, Leidenſchaft, Unbaͤndigkeit, Sinnlichkeit, Unmaͤßigkeit, Habſucht, Faulheit, Schalkheit, Laſter, Leidenſchaft! welche Graͤßlichkeiten bringſt du vor mein Geſicht! wie verunſtalteſt du meine Bruͤder! — — Nehmen wir noch dazu, was damit weſentlich verbunden iſt, was aber, wenn's moͤg- lich iſt, an beſondern Orten weitlaͤufiger wird erwieſen werden; daß nicht nur das Angeſicht, nicht nur die weichen Theile deſſelben, nicht nur die feſtern, ſondern daß das ganze Knochen- ſyſtem ſammt ſeiner Befleiſchung — daß alles, alles — Figur und Geſichtsfarbe, und Stim- me, und Gang, und Geruch — alles am Menſchen, im Verhaͤltniß mit dem Angeſichte — verekelt, verſchlimmert, oder verſchoͤnert werden kann; nehmen wir dieß dazu, machen wir un- ſerer Einbildung hievon Gemaͤlde; — oder leider! gehen wir hin, Wirklichkeit zu ſchauen — gehen hin, vergleichen ein Armenhaus, ein Zuchthaus, das eine Verſammlung liederlicher, vertrunkener, verlumpter Muͤßiggaͤnger iſt — mit irgend einer beſſerdenkenden Bruͤderſchaft — ſo unvollkommen ſie ſey, ſo viel Menſchliches auch noch an ihr ſichtbar ſeyn mag — mit einer Verſammlung von maͤhriſchen Bruͤdern, oder Mennoniten, oder — nur mit einer Zunft arbeitſamer Handwerksleute, welche lebendige Ueberzeugung wird uns das von unſerer Behauptung geben! Und dann mehr noch als nur hievon lebendige Ueberzeugung — Es wird Gefuͤhle fuͤr uns und andere in uns erwecken, die, ſo traurig ſie ſeyn moͤgen, ſo heilſam doch ſind; — und dieſe ſind mein Zweck. Allein der Menſch iſt nicht nur gemacht, daß er fallen kann; — er kann auch wieder zuruͤckſteigen; er kann auch wohl hoͤher ſteigen, als wovon er gefallen iſt. Nehmt den haͤßlich- ſten Menſchen diejenigen Kinder, die auch wirklich ſchon ausgedruͤcktes Ebenbild ihrer Aeltern ſind — entreißt ſie ihnen, und erzieht ſie in einer oͤffentlichen wohleingerichteten und gut exequirten Anſtalt. Der Schritt, den auch die Schlimmſten zu ihrer Verſchoͤnerung gethan ha- ben, wird in die Augen fallen. Setzet dieſe, wenn ſie erwachſen ſind, in Umſtaͤnde, die ihnen die Tugend wenigſtens nicht zu ſchwer machen, wo ſie keine außerordentliche Reizungen zum Laſter haben; und laßt ſie ſich unter einander heurathen; ſetzet den Fall, daß in allen wenig- ſtens einiger Trieb nach Verbeſſerung fortwirke; daß nur einige Sorgfalt und Fleiß, eben nicht der L 2

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/103>, abgerufen am 21.11.2024.