Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

Bild:
<< vorherige Seite

IX. Fragment. Von der Harmonie
kunstmäßigste, auf die Erziehung gewandt werde; daß die Kinder von diesen sich auch nur wie-
der unter sich verheurathen, u. s. w. Jn der fünften, sechsten Generation, welche immer schöne-
re Menschen werdet ihr haben, (wofern sich nicht ganz sonderbare Vorfälle dazwischen gedrängt)
nicht nur in ihren Angesichtszügen, in der festen Knochenbildung des Haupts, in der ganzen
Figur; in allem! Denn wahrlich in Gesellschaft der andern Tugenden und der Gemüthsruhe,
erzeugt ordentliche Arbeitsamkeit, Mäßigkeit, Reinlichkeit; -- und einige Sorgfalt für diese
Dinge bey der Erziehung, wirklich Schönheit des Fleisches, der Farbe; Wohlgestalt, Frey-
heit, Heiterkeit -- und diejenigen Häßlichkeiten, die von Krankheiten, Kränklichkeit u. s. f. her-
kommen, müssen ja auch abnehmen, weil alle diese Tugenden Gesundheit und freyen Glieder-
wuchs mit sich bringen und befördern. Kurz; "Es ist keine Art körperlicher Schönheit --
"an keinem Theile des Menschen, wohin guter oder schlimmer Eindruck der Tugend und des
"Lasters im weitesten Sinne, -- nicht hinreiche."

Welchem Menschenfreunde wallet bey diesen Aussichten das Herz nicht! Hat doch Gott
der Schönheit des menschlichen Angesichts und der menschlichen Gestalt eine so hohe Kraft auf das
menschliche Herz gegeben! -- Was fühlest du empfindsamer Menschenfreund? wenn du vor des
Alterthums herrlichen Jdealen -- wenn du vor Raphaels, Guidos, Wests, Mengs,
Füeßlins
-- herrlichen Menschen- und Engelsgeschöpfen -- stehst! Sprich, o welche Triebe, wel-
che Reize -- welche Sehnsucht nach der Veredlung und Verschönerung unserer gesunkenen Na-
tur wandeln dich an, und bringen deine Seele in Bewegung?

O ihr Erfinder, Beförderer und Liebhaber der schönen Wissenschaften, der edelsten
Künste, vom schöpfrischen Genie, bis zu dem Reichen, der sich mit dem Ankauf eurer Werke
verdient macht -- höret die wichtige Lehre: -- Jhr wollet alles verschönern? Gut, dieß
danken wir euch! und das Schönste unter allen, den Menschen wollet ihr häßlich machen? --
das wollet ihr doch nicht? -- so hindert es nicht, daß er gut werde; so seyd nicht gleichgültig,
ob ers sey oder werde! so braucht die göttlichen Kräfte, die in euren Künsten liegen, den
Menschen gut zu machen, und er wird auch schön werden!

Die Harmonie des Guten und Schönen, des Bösen und Häßlichen, ist ein großes
allweites, herrliches Feld für eure Künste! Denket nicht den Menschen zu verschönern, ohne

ihn

IX. Fragment. Von der Harmonie
kunſtmaͤßigſte, auf die Erziehung gewandt werde; daß die Kinder von dieſen ſich auch nur wie-
der unter ſich verheurathen, u. ſ. w. Jn der fuͤnften, ſechſten Generation, welche immer ſchoͤne-
re Menſchen werdet ihr haben, (wofern ſich nicht ganz ſonderbare Vorfaͤlle dazwiſchen gedraͤngt)
nicht nur in ihren Angeſichtszuͤgen, in der feſten Knochenbildung des Haupts, in der ganzen
Figur; in allem! Denn wahrlich in Geſellſchaft der andern Tugenden und der Gemuͤthsruhe,
erzeugt ordentliche Arbeitſamkeit, Maͤßigkeit, Reinlichkeit; — und einige Sorgfalt fuͤr dieſe
Dinge bey der Erziehung, wirklich Schoͤnheit des Fleiſches, der Farbe; Wohlgeſtalt, Frey-
heit, Heiterkeit — und diejenigen Haͤßlichkeiten, die von Krankheiten, Kraͤnklichkeit u. ſ. f. her-
kommen, muͤſſen ja auch abnehmen, weil alle dieſe Tugenden Geſundheit und freyen Glieder-
wuchs mit ſich bringen und befoͤrdern. Kurz; „Es iſt keine Art koͤrperlicher Schoͤnheit —
„an keinem Theile des Menſchen, wohin guter oder ſchlimmer Eindruck der Tugend und des
„Laſters im weiteſten Sinne, — nicht hinreiche.“

Welchem Menſchenfreunde wallet bey dieſen Ausſichten das Herz nicht! Hat doch Gott
der Schoͤnheit des menſchlichen Angeſichts und der menſchlichen Geſtalt eine ſo hohe Kraft auf das
menſchliche Herz gegeben! — Was fuͤhleſt du empfindſamer Menſchenfreund? wenn du vor des
Alterthums herrlichen Jdealen — wenn du vor Raphaels, Guidos, Weſts, Mengs,
Fuͤeßlins
— herrlichen Menſchen- und Engelsgeſchoͤpfen — ſtehſt! Sprich, o welche Triebe, wel-
che Reize — welche Sehnſucht nach der Veredlung und Verſchoͤnerung unſerer geſunkenen Na-
tur wandeln dich an, und bringen deine Seele in Bewegung?

O ihr Erfinder, Befoͤrderer und Liebhaber der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, der edelſten
Kuͤnſte, vom ſchoͤpfriſchen Genie, bis zu dem Reichen, der ſich mit dem Ankauf eurer Werke
verdient macht — hoͤret die wichtige Lehre: — Jhr wollet alles verſchoͤnern? Gut, dieß
danken wir euch! und das Schoͤnſte unter allen, den Menſchen wollet ihr haͤßlich machen? —
das wollet ihr doch nicht? — ſo hindert es nicht, daß er gut werde; ſo ſeyd nicht gleichguͤltig,
ob ers ſey oder werde! ſo braucht die goͤttlichen Kraͤfte, die in euren Kuͤnſten liegen, den
Menſchen gut zu machen, und er wird auch ſchoͤn werden!

Die Harmonie des Guten und Schoͤnen, des Boͤſen und Haͤßlichen, iſt ein großes
allweites, herrliches Feld fuͤr eure Kuͤnſte! Denket nicht den Menſchen zu verſchoͤnern, ohne

ihn
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0104" n="76"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">IX.</hi><hi rendition="#g">Fragment. Von der Harmonie</hi></hi></fw><lb/>
kun&#x017F;tma&#x0364;ßig&#x017F;te, auf die Erziehung gewandt werde; daß die Kinder von die&#x017F;en &#x017F;ich auch nur wie-<lb/>
der unter &#x017F;ich verheurathen, u. &#x017F;. w. Jn der fu&#x0364;nften, &#x017F;ech&#x017F;ten Generation, welche immer &#x017F;cho&#x0364;ne-<lb/>
re Men&#x017F;chen werdet ihr haben, (wofern &#x017F;ich nicht ganz &#x017F;onderbare Vorfa&#x0364;lle dazwi&#x017F;chen gedra&#x0364;ngt)<lb/>
nicht nur in ihren Ange&#x017F;ichtszu&#x0364;gen, in der fe&#x017F;ten Knochenbildung des Haupts, in der ganzen<lb/>
Figur; in allem! Denn wahrlich in Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft der andern Tugenden und der Gemu&#x0364;thsruhe,<lb/>
erzeugt ordentliche Arbeit&#x017F;amkeit, Ma&#x0364;ßigkeit, Reinlichkeit; &#x2014; und einige Sorgfalt fu&#x0364;r die&#x017F;e<lb/>
Dinge bey der Erziehung, wirklich Scho&#x0364;nheit des Flei&#x017F;ches, der Farbe; Wohlge&#x017F;talt, Frey-<lb/>
heit, Heiterkeit &#x2014; und diejenigen Ha&#x0364;ßlichkeiten, die von Krankheiten, Kra&#x0364;nklichkeit u. &#x017F;. f. her-<lb/>
kommen, mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en ja auch abnehmen, weil alle die&#x017F;e Tugenden Ge&#x017F;undheit und freyen Glieder-<lb/>
wuchs mit &#x017F;ich bringen und befo&#x0364;rdern. Kurz; &#x201E;Es i&#x017F;t keine Art ko&#x0364;rperlicher Scho&#x0364;nheit &#x2014;<lb/>
&#x201E;an keinem Theile des Men&#x017F;chen, wohin guter oder &#x017F;chlimmer Eindruck der Tugend und des<lb/>
&#x201E;La&#x017F;ters im weite&#x017F;ten Sinne, &#x2014; nicht hinreiche.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Welchem Men&#x017F;chenfreunde wallet bey die&#x017F;en Aus&#x017F;ichten das Herz nicht! Hat doch Gott<lb/>
der Scho&#x0364;nheit des men&#x017F;chlichen Ange&#x017F;ichts und der men&#x017F;chlichen Ge&#x017F;talt eine &#x017F;o hohe Kraft auf das<lb/>
men&#x017F;chliche Herz gegeben! &#x2014; Was fu&#x0364;hle&#x017F;t du empfind&#x017F;amer Men&#x017F;chenfreund? wenn du vor des<lb/>
Alterthums herrlichen Jdealen &#x2014; wenn du vor Raphaels, <hi rendition="#fr">Guidos, We&#x017F;ts, Mengs,<lb/>
Fu&#x0364;eßlins</hi> &#x2014; herrlichen Men&#x017F;chen- und Engelsge&#x017F;cho&#x0364;pfen &#x2014; &#x017F;teh&#x017F;t! Sprich, o welche Triebe, wel-<lb/>
che Reize &#x2014; welche Sehn&#x017F;ucht nach der Veredlung und Ver&#x017F;cho&#x0364;nerung un&#x017F;erer ge&#x017F;unkenen Na-<lb/>
tur wandeln dich an, und bringen deine Seele in Bewegung?</p><lb/>
          <p>O ihr Erfinder, Befo&#x0364;rderer und Liebhaber der &#x017F;cho&#x0364;nen Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, der edel&#x017F;ten<lb/>
Ku&#x0364;n&#x017F;te, vom &#x017F;cho&#x0364;pfri&#x017F;chen Genie, bis zu dem Reichen, der &#x017F;ich mit dem Ankauf eurer Werke<lb/>
verdient macht &#x2014; ho&#x0364;ret die wichtige Lehre: &#x2014; Jhr wollet alles ver&#x017F;cho&#x0364;nern? Gut, dieß<lb/>
danken wir euch! und das Scho&#x0364;n&#x017F;te unter allen, den Men&#x017F;chen wollet ihr ha&#x0364;ßlich machen? &#x2014;<lb/>
das wollet ihr doch nicht? &#x2014; &#x017F;o hindert es nicht, daß er <hi rendition="#fr">gut</hi> werde; &#x017F;o &#x017F;eyd nicht gleichgu&#x0364;ltig,<lb/>
ob ers &#x017F;ey oder werde! &#x017F;o braucht die go&#x0364;ttlichen Kra&#x0364;fte, die in euren Ku&#x0364;n&#x017F;ten liegen, den<lb/>
Men&#x017F;chen gut zu machen, und er wird auch &#x017F;cho&#x0364;n werden!</p><lb/>
          <p>Die Harmonie des Guten und Scho&#x0364;nen, des Bo&#x0364;&#x017F;en und Ha&#x0364;ßlichen, i&#x017F;t ein großes<lb/>
allweites, herrliches Feld fu&#x0364;r eure Ku&#x0364;n&#x017F;te! Denket nicht den Men&#x017F;chen zu ver&#x017F;cho&#x0364;nern, ohne<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">ihn</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[76/0104] IX. Fragment. Von der Harmonie kunſtmaͤßigſte, auf die Erziehung gewandt werde; daß die Kinder von dieſen ſich auch nur wie- der unter ſich verheurathen, u. ſ. w. Jn der fuͤnften, ſechſten Generation, welche immer ſchoͤne- re Menſchen werdet ihr haben, (wofern ſich nicht ganz ſonderbare Vorfaͤlle dazwiſchen gedraͤngt) nicht nur in ihren Angeſichtszuͤgen, in der feſten Knochenbildung des Haupts, in der ganzen Figur; in allem! Denn wahrlich in Geſellſchaft der andern Tugenden und der Gemuͤthsruhe, erzeugt ordentliche Arbeitſamkeit, Maͤßigkeit, Reinlichkeit; — und einige Sorgfalt fuͤr dieſe Dinge bey der Erziehung, wirklich Schoͤnheit des Fleiſches, der Farbe; Wohlgeſtalt, Frey- heit, Heiterkeit — und diejenigen Haͤßlichkeiten, die von Krankheiten, Kraͤnklichkeit u. ſ. f. her- kommen, muͤſſen ja auch abnehmen, weil alle dieſe Tugenden Geſundheit und freyen Glieder- wuchs mit ſich bringen und befoͤrdern. Kurz; „Es iſt keine Art koͤrperlicher Schoͤnheit — „an keinem Theile des Menſchen, wohin guter oder ſchlimmer Eindruck der Tugend und des „Laſters im weiteſten Sinne, — nicht hinreiche.“ Welchem Menſchenfreunde wallet bey dieſen Ausſichten das Herz nicht! Hat doch Gott der Schoͤnheit des menſchlichen Angeſichts und der menſchlichen Geſtalt eine ſo hohe Kraft auf das menſchliche Herz gegeben! — Was fuͤhleſt du empfindſamer Menſchenfreund? wenn du vor des Alterthums herrlichen Jdealen — wenn du vor Raphaels, Guidos, Weſts, Mengs, Fuͤeßlins — herrlichen Menſchen- und Engelsgeſchoͤpfen — ſtehſt! Sprich, o welche Triebe, wel- che Reize — welche Sehnſucht nach der Veredlung und Verſchoͤnerung unſerer geſunkenen Na- tur wandeln dich an, und bringen deine Seele in Bewegung? O ihr Erfinder, Befoͤrderer und Liebhaber der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, der edelſten Kuͤnſte, vom ſchoͤpfriſchen Genie, bis zu dem Reichen, der ſich mit dem Ankauf eurer Werke verdient macht — hoͤret die wichtige Lehre: — Jhr wollet alles verſchoͤnern? Gut, dieß danken wir euch! und das Schoͤnſte unter allen, den Menſchen wollet ihr haͤßlich machen? — das wollet ihr doch nicht? — ſo hindert es nicht, daß er gut werde; ſo ſeyd nicht gleichguͤltig, ob ers ſey oder werde! ſo braucht die goͤttlichen Kraͤfte, die in euren Kuͤnſten liegen, den Menſchen gut zu machen, und er wird auch ſchoͤn werden! Die Harmonie des Guten und Schoͤnen, des Boͤſen und Haͤßlichen, iſt ein großes allweites, herrliches Feld fuͤr eure Kuͤnſte! Denket nicht den Menſchen zu verſchoͤnern, ohne ihn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/104
Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/104>, abgerufen am 21.11.2024.