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Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775.

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IX. Fragment. Von der Harmonie
man dir voraus; und du bekommst diese zween Knaben zu Gesichte -- siehst an dem einen wil-
den Blick, gröbere Gesichtszüge, stärkere Augenbraunen, trotzigen Mund, braunröthere Ge-
sichtsfarbe; -- der andere hat sanften Blick, weißre Farbe, kurz dieser sieht seiner Mutter
ähnlich, wie jener dem Vater, und nun! was räthst du? "Der dem Vater so ähnlich sieht,
"der hat den Character der Mutter? der der Mutter so ähnlich sieht, des Vaters Character?"
Oder wirst du sagen: "Jch weiß es nicht zu errathen; doch kann der dem Vater ähnliche Kna-
"be, so gut der Mutter Character haben, als jener etc. etc." Wer würde hier nicht Ungereimt-
heit fühlen? Wer nicht die Wahrheit des Gegentheils?

Wenn das nun richtig ist; wenn sich Häßlichkeiten der Seele und hiemit auch des Lei-
bes -- des Leibes und hiemit auch der Seele, forterben können; so haben wir da den besten
Aufschluß, warum so viele schöne, schöngebohrne Menschen sind, die sich verschlimmern, und
doch bey weitem nicht so auffallend häßlich, als manche andere aussehen? warum so viele häß-
lich gebohrne Menschen sind, die sich sehr bessern und tugendhaft werden, und bey weitem
nicht so auffallend schön und einnehmend sind, als manche andere, die um ein namhaftes we-
niger gut sind?

Aber sehet, wie ewig fest die Harmonie zwischen moralischer und körperlicher Schönheit
da steht! wie sie sich durch dieß alles bestätigt!

Nehmet die schönsten herrlichsten Menschen; setzet, daß sie und ihre Kinder sich mora-
lisch verschlimmern, unbändigen Leidenschaften sich überlassen, und folglich auch in mancherley
Sümpfe und Pfützen von Jmmoralität und Niedrigkeit nach und nach immer tiefer versinken:
o wie sich diese Menschen, wenigstens ihre Physiognomien, von Geschlecht zu Geschlecht ver-
unstalten werden! welche aufgeschwollene, tiefgedrückte, verfleischichte, verplumpte, verzogene,
neidhagere, rohe Gesichter! welche tausendfältige gröbere, und weniger grobe, pöbelhafte Car-
rikaturen nach und nach entstehen! von Geschlecht zu Geschlecht immer häßlichere Figuren!
wie viel tausend Kinder, völlige Ebenbilder schon ganz schlimmer Aeltern, und durch Erzie-
hung noch schlimmer als ihre Aeltern! noch weniger Gutes in ihnen entwickelt, noch mehr
Schlimmes hervorgelockt, noch früher genährt! -- Gott! wie tief sinkt der Mensch von der
Schönheit, die deine väterliche Milde ihm so reichlich anschuf; dein Ebenbild! wie tief sinkt

es

IX. Fragment. Von der Harmonie
man dir voraus; und du bekommſt dieſe zween Knaben zu Geſichte — ſiehſt an dem einen wil-
den Blick, groͤbere Geſichtszuͤge, ſtaͤrkere Augenbraunen, trotzigen Mund, braunroͤthere Ge-
ſichtsfarbe; — der andere hat ſanften Blick, weißre Farbe, kurz dieſer ſieht ſeiner Mutter
aͤhnlich, wie jener dem Vater, und nun! was raͤthſt du? „Der dem Vater ſo aͤhnlich ſieht,
„der hat den Character der Mutter? der der Mutter ſo aͤhnlich ſieht, des Vaters Character?“
Oder wirſt du ſagen: „Jch weiß es nicht zu errathen; doch kann der dem Vater aͤhnliche Kna-
„be, ſo gut der Mutter Character haben, als jener ꝛc. ꝛc.“ Wer wuͤrde hier nicht Ungereimt-
heit fuͤhlen? Wer nicht die Wahrheit des Gegentheils?

Wenn das nun richtig iſt; wenn ſich Haͤßlichkeiten der Seele und hiemit auch des Lei-
bes — des Leibes und hiemit auch der Seele, forterben koͤnnen; ſo haben wir da den beſten
Aufſchluß, warum ſo viele ſchoͤne, ſchoͤngebohrne Menſchen ſind, die ſich verſchlimmern, und
doch bey weitem nicht ſo auffallend haͤßlich, als manche andere ausſehen? warum ſo viele haͤß-
lich gebohrne Menſchen ſind, die ſich ſehr beſſern und tugendhaft werden, und bey weitem
nicht ſo auffallend ſchoͤn und einnehmend ſind, als manche andere, die um ein namhaftes we-
niger gut ſind?

Aber ſehet, wie ewig feſt die Harmonie zwiſchen moraliſcher und koͤrperlicher Schoͤnheit
da ſteht! wie ſie ſich durch dieß alles beſtaͤtigt!

Nehmet die ſchoͤnſten herrlichſten Menſchen; ſetzet, daß ſie und ihre Kinder ſich mora-
liſch verſchlimmern, unbaͤndigen Leidenſchaften ſich uͤberlaſſen, und folglich auch in mancherley
Suͤmpfe und Pfuͤtzen von Jmmoralitaͤt und Niedrigkeit nach und nach immer tiefer verſinken:
o wie ſich dieſe Menſchen, wenigſtens ihre Phyſiognomien, von Geſchlecht zu Geſchlecht ver-
unſtalten werden! welche aufgeſchwollene, tiefgedruͤckte, verfleiſchichte, verplumpte, verzogene,
neidhagere, rohe Geſichter! welche tauſendfaͤltige groͤbere, und weniger grobe, poͤbelhafte Car-
rikaturen nach und nach entſtehen! von Geſchlecht zu Geſchlecht immer haͤßlichere Figuren!
wie viel tauſend Kinder, voͤllige Ebenbilder ſchon ganz ſchlimmer Aeltern, und durch Erzie-
hung noch ſchlimmer als ihre Aeltern! noch weniger Gutes in ihnen entwickelt, noch mehr
Schlimmes hervorgelockt, noch fruͤher genaͤhrt! — Gott! wie tief ſinkt der Menſch von der
Schoͤnheit, die deine vaͤterliche Milde ihm ſo reichlich anſchuf; dein Ebenbild! wie tief ſinkt

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[74/0102] IX. Fragment. Von der Harmonie man dir voraus; und du bekommſt dieſe zween Knaben zu Geſichte — ſiehſt an dem einen wil- den Blick, groͤbere Geſichtszuͤge, ſtaͤrkere Augenbraunen, trotzigen Mund, braunroͤthere Ge- ſichtsfarbe; — der andere hat ſanften Blick, weißre Farbe, kurz dieſer ſieht ſeiner Mutter aͤhnlich, wie jener dem Vater, und nun! was raͤthſt du? „Der dem Vater ſo aͤhnlich ſieht, „der hat den Character der Mutter? der der Mutter ſo aͤhnlich ſieht, des Vaters Character?“ Oder wirſt du ſagen: „Jch weiß es nicht zu errathen; doch kann der dem Vater aͤhnliche Kna- „be, ſo gut der Mutter Character haben, als jener ꝛc. ꝛc.“ Wer wuͤrde hier nicht Ungereimt- heit fuͤhlen? Wer nicht die Wahrheit des Gegentheils? Wenn das nun richtig iſt; wenn ſich Haͤßlichkeiten der Seele und hiemit auch des Lei- bes — des Leibes und hiemit auch der Seele, forterben koͤnnen; ſo haben wir da den beſten Aufſchluß, warum ſo viele ſchoͤne, ſchoͤngebohrne Menſchen ſind, die ſich verſchlimmern, und doch bey weitem nicht ſo auffallend haͤßlich, als manche andere ausſehen? warum ſo viele haͤß- lich gebohrne Menſchen ſind, die ſich ſehr beſſern und tugendhaft werden, und bey weitem nicht ſo auffallend ſchoͤn und einnehmend ſind, als manche andere, die um ein namhaftes we- niger gut ſind? Aber ſehet, wie ewig feſt die Harmonie zwiſchen moraliſcher und koͤrperlicher Schoͤnheit da ſteht! wie ſie ſich durch dieß alles beſtaͤtigt! Nehmet die ſchoͤnſten herrlichſten Menſchen; ſetzet, daß ſie und ihre Kinder ſich mora- liſch verſchlimmern, unbaͤndigen Leidenſchaften ſich uͤberlaſſen, und folglich auch in mancherley Suͤmpfe und Pfuͤtzen von Jmmoralitaͤt und Niedrigkeit nach und nach immer tiefer verſinken: o wie ſich dieſe Menſchen, wenigſtens ihre Phyſiognomien, von Geſchlecht zu Geſchlecht ver- unſtalten werden! welche aufgeſchwollene, tiefgedruͤckte, verfleiſchichte, verplumpte, verzogene, neidhagere, rohe Geſichter! welche tauſendfaͤltige groͤbere, und weniger grobe, poͤbelhafte Car- rikaturen nach und nach entſtehen! von Geſchlecht zu Geſchlecht immer haͤßlichere Figuren! wie viel tauſend Kinder, voͤllige Ebenbilder ſchon ganz ſchlimmer Aeltern, und durch Erzie- hung noch ſchlimmer als ihre Aeltern! noch weniger Gutes in ihnen entwickelt, noch mehr Schlimmes hervorgelockt, noch fruͤher genaͤhrt! — Gott! wie tief ſinkt der Menſch von der Schoͤnheit, die deine vaͤterliche Milde ihm ſo reichlich anſchuf; dein Ebenbild! wie tief ſinkt es

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Bd. 1. Leipzig u. a., 1775, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_fragmente01_1775/102>, abgerufen am 21.11.2024.