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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783.

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Matthäus VII.

Ich habe so viel und so nichts gesagt -- wer kann
genug sagen von dem, was alles in sich schließt -- und
vielleicht ist das wichtigste, lehrreichste, brauchbarste noch
zurück. Die Anwendung dieser Regel. Auch diese
ist für den redlichen, arglosen Menschen unendlich leicht
in jedem wirklich vorhandenen, nicht blos erdichteten Fal-
le -- gerad itzt, zum Exempel, indem ich dies schreibe
-- soll ich so schreiben, wie ich's gerne hätte, daß von
irgend einem andern, von dem ich gern was über diese
Regel läse, geschrieben würde. -- Von der Leserlichkeit
der Handschrift, von der Reinlichkeit des Papiers an
bis auf den Gang, den Ausdruck, die Wendung der Ge-
danken -- gerad jetzt kommt jemand zu mir: Fort mein
eigner Wille! Was hätt' ich gern, wenn ich ins Zim-
mer träte? Was würd' ich wollen? Welchen Empfang?
Welche Antwort? Welche Hülfe? Welche Gebährde?
Miene? Manier bey der Hülfe? Welche Diskrezion?
Verschwiegenheit? -- Es will jemand Belehrung von
Mir -- -- was würd' ich, an seiner Stelle von dem
Belehrer wünschen? Welche Sanftmuth, Geduld, Her-
ablassung? Deutlichkeit -- Treuherzigkeit -- Welches
Interesse, welche Theilnehmung für meine Erleuchtung
und Beruhignng? -- -- Noch einmal -- die Men-
schen werden kaum mehr wissen, wen sie vor sich sehen;
Sie werden eine Art von höhern Wesen zu erblicken
glauben, oder wenigstens dunkel etwas ähnliches füh-
len, als ob ein höheres Wesen vor ihnen schwebte, wenn
man nach diesem Grundsatze handelt -- sich selber so ganz
vergißt, so ganz in den andern hinein denkt.

Man
Matthäus VII.

Ich habe ſo viel und ſo nichts geſagt — wer kann
genug ſagen von dem, was alles in ſich ſchließt — und
vielleicht iſt das wichtigſte, lehrreichſte, brauchbarſte noch
zurück. Die Anwendung dieſer Regel. Auch dieſe
iſt für den redlichen, argloſen Menſchen unendlich leicht
in jedem wirklich vorhandenen, nicht blos erdichteten Fal-
le — gerad itzt, zum Exempel, indem ich dies ſchreibe
— ſoll ich ſo ſchreiben, wie ich’s gerne hätte, daß von
irgend einem andern, von dem ich gern was über dieſe
Regel läſe, geſchrieben würde. — Von der Leſerlichkeit
der Handſchrift, von der Reinlichkeit des Papiers an
bis auf den Gang, den Ausdruck, die Wendung der Ge-
danken — gerad jetzt kommt jemand zu mir: Fort mein
eigner Wille! Was hätt’ ich gern, wenn ich ins Zim-
mer träte? Was würd’ ich wollen? Welchen Empfang?
Welche Antwort? Welche Hülfe? Welche Gebährde?
Miene? Manier bey der Hülfe? Welche Diskrezion?
Verſchwiegenheit? — Es will jemand Belehrung von
Mir — — was würd’ ich, an ſeiner Stelle von dem
Belehrer wünſchen? Welche Sanftmuth, Geduld, Her-
ablaſſung? Deutlichkeit — Treuherzigkeit — Welches
Intereſſe, welche Theilnehmung für meine Erleuchtung
und Beruhignng? — — Noch einmal — die Men-
ſchen werden kaum mehr wiſſen, wen ſie vor ſich ſehen;
Sie werden eine Art von höhern Weſen zu erblicken
glauben, oder wenigſtens dunkel etwas ähnliches füh-
len, als ob ein höheres Weſen vor ihnen ſchwebte, wenn
man nach dieſem Grundſatze handelt — ſich ſelber ſo ganz
vergißt, ſo ganz in den andern hinein denkt.

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[56[76]/0084] Matthäus VII. Ich habe ſo viel und ſo nichts geſagt — wer kann genug ſagen von dem, was alles in ſich ſchließt — und vielleicht iſt das wichtigſte, lehrreichſte, brauchbarſte noch zurück. Die Anwendung dieſer Regel. Auch dieſe iſt für den redlichen, argloſen Menſchen unendlich leicht in jedem wirklich vorhandenen, nicht blos erdichteten Fal- le — gerad itzt, zum Exempel, indem ich dies ſchreibe — ſoll ich ſo ſchreiben, wie ich’s gerne hätte, daß von irgend einem andern, von dem ich gern was über dieſe Regel läſe, geſchrieben würde. — Von der Leſerlichkeit der Handſchrift, von der Reinlichkeit des Papiers an bis auf den Gang, den Ausdruck, die Wendung der Ge- danken — gerad jetzt kommt jemand zu mir: Fort mein eigner Wille! Was hätt’ ich gern, wenn ich ins Zim- mer träte? Was würd’ ich wollen? Welchen Empfang? Welche Antwort? Welche Hülfe? Welche Gebährde? Miene? Manier bey der Hülfe? Welche Diskrezion? Verſchwiegenheit? — Es will jemand Belehrung von Mir — — was würd’ ich, an ſeiner Stelle von dem Belehrer wünſchen? Welche Sanftmuth, Geduld, Her- ablaſſung? Deutlichkeit — Treuherzigkeit — Welches Intereſſe, welche Theilnehmung für meine Erleuchtung und Beruhignng? — — Noch einmal — die Men- ſchen werden kaum mehr wiſſen, wen ſie vor ſich ſehen; Sie werden eine Art von höhern Weſen zu erblicken glauben, oder wenigſtens dunkel etwas ähnliches füh- len, als ob ein höheres Weſen vor ihnen ſchwebte, wenn man nach dieſem Grundſatze handelt — ſich ſelber ſo ganz vergißt, ſo ganz in den andern hinein denkt. Man

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Zitationshilfe: Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 56[76]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/84>, abgerufen am 12.06.2024.