recht der Verehrer der Tugend. Der Lasterhafte ist im- mer der unweiseste, der fernste von wahrer Erkenntniß.
Noch ein Paar Anmerkungen, liebe Leser, über diese Geschichte.
Herodes hatte eidlich betheuert, der schönen Tän- zerinn alles zu geben, was sie von ihm bitten würde -- Um dieses Eides willen hieß er den Johannes ent- haupten. Sollten wir alle unsere Worte wägen, wie viel mehr alle feyerliche vor Gott ausgesprochene Betheu- rungen?
Doch gesetzt, wir wären so unvorsichtig und ver- messen gewesen, uns in solche Betheurungen, oder eid- liche Verpflichtungen einzulassen, deren Erfüllung un- sern sittlichen Gefühlen, göttlichen Gesetzen, oder der Wohlfahrt unsrer Nebenmenschen zuwider wäre; -- So laßt uns dieser ersten Thorheit nicht die zweyte schreck- lichere beyfügen: Das unsinnige Gelübd durch die unsinni- gere Vollziehung desselben noch schrecklicher für uns zu ma- chen. Niederfallen laßt uns vor Gottes Angesicht, und ihm unsere Thorheit kindlich bekennen. Der Heiligste hat kein Mißfallen an der Nichterfüllung unserer unheiligen Gelübde. Der Gnadenvolle hat Mitleiden mit der be- reuten Thorheit der schwachen, unüberlegsamen Men- schen. Er will lieber, daß wir Böses versprechen und nicht halten, als daß wir's halten.
Wenn übrigens Herodes sein Wort hält um des Eides willen, und um deren willen die mit ihm zu Tische sassen; Ein Wort das einem Unschuldigen
das
Matthäus XIV.
recht der Verehrer der Tugend. Der Laſterhafte iſt im- mer der unweiſeſte, der fernſte von wahrer Erkenntniß.
Noch ein Paar Anmerkungen, liebe Leſer, über dieſe Geſchichte.
Herodes hatte eidlich betheuert, der ſchönen Tän- zerinn alles zu geben, was ſie von ihm bitten würde — Um dieſes Eides willen hieß er den Johannes ent- haupten. Sollten wir alle unſere Worte wägen, wie viel mehr alle feyerliche vor Gott ausgeſprochene Betheu- rungen?
Doch geſetzt, wir wären ſo unvorſichtig und ver- meſſen geweſen, uns in ſolche Betheurungen, oder eid- liche Verpflichtungen einzulaſſen, deren Erfüllung un- ſern ſittlichen Gefühlen, göttlichen Geſetzen, oder der Wohlfahrt unſrer Nebenmenſchen zuwider wäre; — So laßt uns dieſer erſten Thorheit nicht die zweyte ſchreck- lichere beyfügen: Das unſinnige Gelübd durch die unſinni- gere Vollziehung deſſelben noch ſchrecklicher für uns zu ma- chen. Niederfallen laßt uns vor Gottes Angeſicht, und ihm unſere Thorheit kindlich bekennen. Der Heiligſte hat kein Mißfallen an der Nichterfüllung unſerer unheiligen Gelübde. Der Gnadenvolle hat Mitleiden mit der be- reuten Thorheit der ſchwachen, unüberlegſamen Men- ſchen. Er will lieber, daß wir Böſes verſprechen und nicht halten, als daß wir’s halten.
Wenn übrigens Herodes ſein Wort hält um des Eides willen, und um deren willen die mit ihm zu Tiſche ſaſſen; Ein Wort das einem Unſchuldigen
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[200[220]/0228]
Matthäus XIV.
recht der Verehrer der Tugend. Der Laſterhafte iſt im-
mer der unweiſeſte, der fernſte von wahrer Erkenntniß.
Noch ein Paar Anmerkungen, liebe Leſer, über
dieſe Geſchichte.
Herodes hatte eidlich betheuert, der ſchönen Tän-
zerinn alles zu geben, was ſie von ihm bitten würde —
Um dieſes Eides willen hieß er den Johannes ent-
haupten. Sollten wir alle unſere Worte wägen, wie
viel mehr alle feyerliche vor Gott ausgeſprochene Betheu-
rungen?
Doch geſetzt, wir wären ſo unvorſichtig und ver-
meſſen geweſen, uns in ſolche Betheurungen, oder eid-
liche Verpflichtungen einzulaſſen, deren Erfüllung un-
ſern ſittlichen Gefühlen, göttlichen Geſetzen, oder der
Wohlfahrt unſrer Nebenmenſchen zuwider wäre; —
So laßt uns dieſer erſten Thorheit nicht die zweyte ſchreck-
lichere beyfügen: Das unſinnige Gelübd durch die unſinni-
gere Vollziehung deſſelben noch ſchrecklicher für uns zu ma-
chen. Niederfallen laßt uns vor Gottes Angeſicht, und ihm
unſere Thorheit kindlich bekennen. Der Heiligſte hat
kein Mißfallen an der Nichterfüllung unſerer unheiligen
Gelübde. Der Gnadenvolle hat Mitleiden mit der be-
reuten Thorheit der ſchwachen, unüberlegſamen Men-
ſchen. Er will lieber, daß wir Böſes verſprechen und
nicht halten, als daß wir’s halten.
Wenn übrigens Herodes ſein Wort hält um des
Eides willen, und um deren willen die mit ihm
zu Tiſche ſaſſen; Ein Wort das einem Unſchuldigen
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Lavater, Johann Caspar: Betrachtungen über die wichtigsten Stellen der Evangelien. Bd. 1: Matthäus und Markus. Dessau/Leipzig, 1783, S. 200[220]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lavater_betrachtungen01_1783/228>, abgerufen am 21.11.2024.
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