Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 1. Halle, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

unbearbeitet: er bearbeitete sie zuerst -- freilich nur
in so fern, als man es von einem orthodoxen Manne
erwarten darf. Was hätte Walch nicht aus der
Geschichte der Ketzereien machen können, wenn er
Semlers Freimüthigkeit gehabt hätte! Eine Häre-
siologie von einem Manne, der ganz von den Fesseln
der Kirchenreligion entladen wäre, der aber Walchs
entsetzliche Belesenheit und eiserne Geduld hätte, müßte
wahrlich mehr fruchten, als alle Dogmatiken mit
und ohne Dogmengeschichte, und als alle Bestreitun-
gen oder Rechtfertigungen der Symbolischen Bücher
u. s. w. Eine Häresiologie von der Art würde au-
genscheinlich einen jeden überzeugen: daß die meisten
kirchlichen Dogmen, wie sie da im Katechismus
vorliegen, zu gewissen Zeiten und in gewissen Ländern
Ketzerei, und zu andern gewissen Zeiten und in an-
dern gewissen Ländern wieder Orthodoxie gewesen
sind. Und wer das so ansieht, und erkennt, muß ja
doch wahrhaftig das Gehirn erfroren haben, wenn
er das Gewebe von Dogmen -- von Christi Per-
son, von der Erbsünde, Gnade, Prädestination
u. s. w. -- noch für Gottes Wort und Offenbarung
zur Seligkeit nöthig halten kann *). Das heißt doch

*) Wie dergleichen Vorstellungen nach dem Gesetz der Ein-
bildungskraft und des Vernunftähnlichen allmälig fa-
bricirt sind, zeigt sehr einleuchtend Herr Prof. Maaß

unbearbeitet: er bearbeitete ſie zuerſt — freilich nur
in ſo fern, als man es von einem orthodoxen Manne
erwarten darf. Was haͤtte Walch nicht aus der
Geſchichte der Ketzereien machen koͤnnen, wenn er
Semlers Freimuͤthigkeit gehabt haͤtte! Eine Haͤre-
ſiologie von einem Manne, der ganz von den Feſſeln
der Kirchenreligion entladen waͤre, der aber Walchs
entſetzliche Beleſenheit und eiſerne Geduld haͤtte, muͤßte
wahrlich mehr fruchten, als alle Dogmatiken mit
und ohne Dogmengeſchichte, und als alle Beſtreitun-
gen oder Rechtfertigungen der Symboliſchen Buͤcher
u. ſ. w. Eine Haͤreſiologie von der Art wuͤrde au-
genſcheinlich einen jeden uͤberzeugen: daß die meiſten
kirchlichen Dogmen, wie ſie da im Katechismus
vorliegen, zu gewiſſen Zeiten und in gewiſſen Laͤndern
Ketzerei, und zu andern gewiſſen Zeiten und in an-
dern gewiſſen Laͤndern wieder Orthodoxie geweſen
ſind. Und wer das ſo anſieht, und erkennt, muß ja
doch wahrhaftig das Gehirn erfroren haben, wenn
er das Gewebe von Dogmen — von Chriſti Per-
ſon, von der Erbſuͤnde, Gnade, Praͤdeſtination
u. ſ. w. — noch fuͤr Gottes Wort und Offenbarung
zur Seligkeit noͤthig halten kann *). Das heißt doch

*) Wie dergleichen Vorſtellungen nach dem Geſetz der Ein-
bildungskraft und des Vernunftaͤhnlichen allmaͤlig fa-
bricirt ſind, zeigt ſehr einleuchtend Herr Prof. Maaß
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0264" n="250"/>
unbearbeitet: er bearbeitete &#x017F;ie zuer&#x017F;t &#x2014; freilich nur<lb/>
in &#x017F;o fern, als man es von einem orthodoxen Manne<lb/>
erwarten darf. Was ha&#x0364;tte <hi rendition="#g">Walch</hi> nicht aus der<lb/>
Ge&#x017F;chichte der Ketzereien machen ko&#x0364;nnen, wenn er<lb/><hi rendition="#g">Semlers</hi> Freimu&#x0364;thigkeit gehabt ha&#x0364;tte! Eine Ha&#x0364;re-<lb/>
&#x017F;iologie von einem Manne, der ganz von den Fe&#x017F;&#x017F;eln<lb/>
der Kirchenreligion entladen wa&#x0364;re, der aber Walchs<lb/>
ent&#x017F;etzliche Bele&#x017F;enheit und ei&#x017F;erne Geduld ha&#x0364;tte, mu&#x0364;ßte<lb/>
wahrlich mehr fruchten, als alle Dogmatiken mit<lb/>
und ohne Dogmenge&#x017F;chichte, und als alle Be&#x017F;treitun-<lb/>
gen oder Rechtfertigungen der Symboli&#x017F;chen Bu&#x0364;cher<lb/>
u. &#x017F;. w. Eine Ha&#x0364;re&#x017F;iologie von der Art wu&#x0364;rde au-<lb/>
gen&#x017F;cheinlich einen jeden u&#x0364;berzeugen: daß die mei&#x017F;ten<lb/><hi rendition="#g">kirchlichen Dogmen</hi>, wie &#x017F;ie da im Katechismus<lb/>
vorliegen, zu gewi&#x017F;&#x017F;en Zeiten und in gewi&#x017F;&#x017F;en La&#x0364;ndern<lb/>
Ketzerei, und zu andern gewi&#x017F;&#x017F;en Zeiten und in an-<lb/>
dern gewi&#x017F;&#x017F;en La&#x0364;ndern wieder Orthodoxie gewe&#x017F;en<lb/>
&#x017F;ind. Und wer das &#x017F;o an&#x017F;ieht, und erkennt, muß ja<lb/>
doch wahrhaftig das Gehirn erfroren haben, wenn<lb/>
er das Gewebe von Dogmen &#x2014; von Chri&#x017F;ti Per-<lb/>
&#x017F;on, von der Erb&#x017F;u&#x0364;nde, Gnade, Pra&#x0364;de&#x017F;tination<lb/>
u. &#x017F;. w. &#x2014; noch fu&#x0364;r Gottes Wort und Offenbarung<lb/>
zur Seligkeit no&#x0364;thig halten kann <note xml:id="note-0264" next="#note-0265" place="foot" n="*)">Wie dergleichen Vor&#x017F;tellungen nach dem Ge&#x017F;etz der Ein-<lb/>
bildungskraft und des Vernunfta&#x0364;hnlichen allma&#x0364;lig fa-<lb/>
bricirt &#x017F;ind, zeigt &#x017F;ehr einleuchtend Herr Prof. <hi rendition="#g">Maaß</hi></note>. Das heißt doch<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[250/0264] unbearbeitet: er bearbeitete ſie zuerſt — freilich nur in ſo fern, als man es von einem orthodoxen Manne erwarten darf. Was haͤtte Walch nicht aus der Geſchichte der Ketzereien machen koͤnnen, wenn er Semlers Freimuͤthigkeit gehabt haͤtte! Eine Haͤre- ſiologie von einem Manne, der ganz von den Feſſeln der Kirchenreligion entladen waͤre, der aber Walchs entſetzliche Beleſenheit und eiſerne Geduld haͤtte, muͤßte wahrlich mehr fruchten, als alle Dogmatiken mit und ohne Dogmengeſchichte, und als alle Beſtreitun- gen oder Rechtfertigungen der Symboliſchen Buͤcher u. ſ. w. Eine Haͤreſiologie von der Art wuͤrde au- genſcheinlich einen jeden uͤberzeugen: daß die meiſten kirchlichen Dogmen, wie ſie da im Katechismus vorliegen, zu gewiſſen Zeiten und in gewiſſen Laͤndern Ketzerei, und zu andern gewiſſen Zeiten und in an- dern gewiſſen Laͤndern wieder Orthodoxie geweſen ſind. Und wer das ſo anſieht, und erkennt, muß ja doch wahrhaftig das Gehirn erfroren haben, wenn er das Gewebe von Dogmen — von Chriſti Per- ſon, von der Erbſuͤnde, Gnade, Praͤdeſtination u. ſ. w. — noch fuͤr Gottes Wort und Offenbarung zur Seligkeit noͤthig halten kann *). Das heißt doch *) Wie dergleichen Vorſtellungen nach dem Geſetz der Ein- bildungskraft und des Vernunftaͤhnlichen allmaͤlig fa- bricirt ſind, zeigt ſehr einleuchtend Herr Prof. Maaß

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben01_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben01_1792/264
Zitationshilfe: Laukhard, Friedrich Christian: F. C. Laukhards Leben und Schicksale. Bd. 1. Halle, 1792, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laukhard_leben01_1792/264>, abgerufen am 23.11.2024.