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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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"Übungen" über die Atomistik.
ein besonderer Nachdruck gelegt werden auf die Prüfung der
Einwendungen des Aristoteles gegen die alten Physiker, in
denen sich eine außerordentliche Schärfe und Feinheit des
Geistes zeige, während alle die überflüssigen und inhaltslosen
Fragen (Quaestiuncula), welche von ehemaliger Unbildung her-
stammen, beiseite zu lassen seien.1 Es ist klar, daß die sorg-
fältige und eingehende Prüfung der Streitfragen zwischen
Aristoteles und seinen Vorgängern die Untersuchung über die
Grundlagen seiner Physik neu beleben mußte. Unter den von
Aristoteles bekämpften Gegnern nehmen aber die Atomisten
eine hervorragende Stelle ein, und der gehorsame Schüler des
Meisters wurde so genötigt, mit den Lehren Demokrits sich
genauer zu beschäftigen. Bei vorurteilslosen und scharfsinnigen
Köpfen konnte dieses Studium eben so leicht zur Anhänger-
schaft an die Gegner des Aristoteles, als zur Stärkung der
peripatetischen Philosophie führen, und wer zur Übung in der
Dialektik die Atomistik verteidigte, mochte auch im Ernste
für sie in die Schranken treten. Die beliebten Exercitationes
und Paradoxa verschleiern oft nur den aristotelesfeindlichen
Sinn. In der That müssen wir annehmen, daß im Beginn des
17. Jahrhunderts in den wissenschaftlichen Kreisen von Paris,
namentlich unter den jüngeren, zu Neuerungen geneigten Ele-
menten, und ganz besonders unter den philosophisch gebildeten
Ärzten, in privaten Disputationen entschieden antiperipatetische
Anschauungen unbedenklich diskutiert worden sind, ja wir
dürfen glauben, daß die heimlichen Anhänger der Atomistik
nicht selten waren, wenn auch der offizielle Druck der Sor-
bonne jedes öffentliche Hervortreten hinderte. Denn wie wäre
es sonst möglich gewesen, daß binnen wenigen Jahren in
Frankreich eine so stattliche Anzahl von Verteidigern der Kor-
puskulartheorie oder wenigstens von Gegnern der aristotelischen
Physik hervortreten konnte, wie wir sie in der Folge zu
nennen haben werden? Der erste von ihnen, Sebastian Basso,
bezeugt selbst, wie viele damals "daran gearbeitet haben, die
gleichsam vergrabene Wahrheit ans Licht zu bringen, die rie-
sigen Felsmassen, welche den Weg zu ihr versperrten, wegzu-
räumen oder doch durch die stets wiederholten Schläge der

1 Launoius, De var. Arist. in acad. Parisiana fortuna. Op. T. IV. p. 220.

„Übungen‟ über die Atomistik.
ein besonderer Nachdruck gelegt werden auf die Prüfung der
Einwendungen des Aristoteles gegen die alten Physiker, in
denen sich eine außerordentliche Schärfe und Feinheit des
Geistes zeige, während alle die überflüssigen und inhaltslosen
Fragen (Quaestiuncula), welche von ehemaliger Unbildung her-
stammen, beiseite zu lassen seien.1 Es ist klar, daß die sorg-
fältige und eingehende Prüfung der Streitfragen zwischen
Aristoteles und seinen Vorgängern die Untersuchung über die
Grundlagen seiner Physik neu beleben mußte. Unter den von
Aristoteles bekämpften Gegnern nehmen aber die Atomisten
eine hervorragende Stelle ein, und der gehorsame Schüler des
Meisters wurde so genötigt, mit den Lehren Demokrits sich
genauer zu beschäftigen. Bei vorurteilslosen und scharfsinnigen
Köpfen konnte dieses Studium eben so leicht zur Anhänger-
schaft an die Gegner des Aristoteles, als zur Stärkung der
peripatetischen Philosophie führen, und wer zur Übung in der
Dialektik die Atomistik verteidigte, mochte auch im Ernste
für sie in die Schranken treten. Die beliebten Exercitationes
und Paradoxa verschleiern oft nur den aristotelesfeindlichen
Sinn. In der That müssen wir annehmen, daß im Beginn des
17. Jahrhunderts in den wissenschaftlichen Kreisen von Paris,
namentlich unter den jüngeren, zu Neuerungen geneigten Ele-
menten, und ganz besonders unter den philosophisch gebildeten
Ärzten, in privaten Disputationen entschieden antiperipatetische
Anschauungen unbedenklich diskutiert worden sind, ja wir
dürfen glauben, daß die heimlichen Anhänger der Atomistik
nicht selten waren, wenn auch der offizielle Druck der Sor-
bonne jedes öffentliche Hervortreten hinderte. Denn wie wäre
es sonst möglich gewesen, daß binnen wenigen Jahren in
Frankreich eine so stattliche Anzahl von Verteidigern der Kor-
puskulartheorie oder wenigstens von Gegnern der aristotelischen
Physik hervortreten konnte, wie wir sie in der Folge zu
nennen haben werden? Der erste von ihnen, Sebastian Basso,
bezeugt selbst, wie viele damals „daran gearbeitet haben, die
gleichsam vergrabene Wahrheit ans Licht zu bringen, die rie-
sigen Felsmassen, welche den Weg zu ihr versperrten, wegzu-
räumen oder doch durch die stets wiederholten Schläge der

1 Launoius, De var. Arist. in acad. Parisiana fortuna. Op. T. IV. p. 220.
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[466/0484] „Übungen‟ über die Atomistik. ein besonderer Nachdruck gelegt werden auf die Prüfung der Einwendungen des Aristoteles gegen die alten Physiker, in denen sich eine außerordentliche Schärfe und Feinheit des Geistes zeige, während alle die überflüssigen und inhaltslosen Fragen (Quaestiuncula), welche von ehemaliger Unbildung her- stammen, beiseite zu lassen seien. 1 Es ist klar, daß die sorg- fältige und eingehende Prüfung der Streitfragen zwischen Aristoteles und seinen Vorgängern die Untersuchung über die Grundlagen seiner Physik neu beleben mußte. Unter den von Aristoteles bekämpften Gegnern nehmen aber die Atomisten eine hervorragende Stelle ein, und der gehorsame Schüler des Meisters wurde so genötigt, mit den Lehren Demokrits sich genauer zu beschäftigen. Bei vorurteilslosen und scharfsinnigen Köpfen konnte dieses Studium eben so leicht zur Anhänger- schaft an die Gegner des Aristoteles, als zur Stärkung der peripatetischen Philosophie führen, und wer zur Übung in der Dialektik die Atomistik verteidigte, mochte auch im Ernste für sie in die Schranken treten. Die beliebten Exercitationes und Paradoxa verschleiern oft nur den aristotelesfeindlichen Sinn. In der That müssen wir annehmen, daß im Beginn des 17. Jahrhunderts in den wissenschaftlichen Kreisen von Paris, namentlich unter den jüngeren, zu Neuerungen geneigten Ele- menten, und ganz besonders unter den philosophisch gebildeten Ärzten, in privaten Disputationen entschieden antiperipatetische Anschauungen unbedenklich diskutiert worden sind, ja wir dürfen glauben, daß die heimlichen Anhänger der Atomistik nicht selten waren, wenn auch der offizielle Druck der Sor- bonne jedes öffentliche Hervortreten hinderte. Denn wie wäre es sonst möglich gewesen, daß binnen wenigen Jahren in Frankreich eine so stattliche Anzahl von Verteidigern der Kor- puskulartheorie oder wenigstens von Gegnern der aristotelischen Physik hervortreten konnte, wie wir sie in der Folge zu nennen haben werden? Der erste von ihnen, Sebastian Basso, bezeugt selbst, wie viele damals „daran gearbeitet haben, die gleichsam vergrabene Wahrheit ans Licht zu bringen, die rie- sigen Felsmassen, welche den Weg zu ihr versperrten, wegzu- räumen oder doch durch die stets wiederholten Schläge der 1 Launoius, De var. Arist. in acad. Parisiana fortuna. Op. T. IV. p. 220.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/484>, abgerufen am 22.11.2024.