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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Verachtung der Atomistik.
selbst zu denken. Da man aber sogar gewagt hat, derartiges
zu verteidigen, so schäme ich mich nicht ihrer, sondern des
Menschengeschlechts selbst, dessen Ohren dies vertragen
konnten."

Die Ausführungen des Augustinus schließen sich an Cicero1
an. Sie ergänzen die Meinungsäußerungen des Dionysius und
Lactantius über die Atome, indem sie auch die Wahrnehmungs-
und Erkenntnistheorie der Atomiker bekämpfen. Sie sind zu-
gleich das Scharfsinnigste, was gegen die Atome gesagt ist;
indem Augustinus die innere Konsequenz der Atomistik zugibt,
bestreitet er die Unmöglichkeit der Atome mit Berufung auf
die Unmöglichkeit, sie wahrzunehmen oder zu denken. Aber
diese Widerlegung geschieht nur mit Widerwillen; für den
Christen wäre sie nicht nötig; lieber möchte er diesen Schmutz
gar nicht erst anrühren, jedoch läßt er sich herab, ihn zu
entfernen, um zu zeigen, daß auch dies ihm ein Leichtes sei.

Das Bild, welches das Studium der Atomistik in der
patristischen Zeit darbietet, dürfte hiermit zur Genüge vervoll-
ständigt sein. Die ausreichende historische Übermittelung und
die thatsächliche Kenntnis der Atomistik stärkt nur die Ab-
wendung von derselben. Je mehr die Macht der christlichen
Lehre fortschreitet, um so mehr schwindet mit dem Interesse
an den kosmischen und physikalischen Problemen das Ver-
ständnis für eine kausale Erklärungsweise. Das Wunder reicht
überall aus; es ist geschehen in der Weltschöpfung, es ist
vollzogen durch das Leben des Heilandes, es wird erlebt all-
täglich in der Seele des Christen, die durch die Gnade Gottes
sich erlöst fühlt. Was also sollen die Bemühungen, äußerliche
Erklärungen für die Wunder der Natur aufzufinden? Das über-
lasse man den Heiden!

So lange der Mangel an physikalischem Interesse andauerte,
war von vornherein für die Atomistik nichts zu hoffen. Aber
die autoritative Macht der Kirchenlehrer sollte noch weit in die
Zeiten hineinwirken, in welchen eine selbständige Wissenschaft
sich wieder zu regen begann. Ihr Verdammungsurteil verhin-
derte einerseits die Beschäftigung mit korpuskularen Vorstel-
lungen überhaupt und erschwerte sie anderseits für diejenigen,

1 Hier namentlich De natura deorum, l. I, c. 18, 19, 24, 25, 38, 39, 43.

Verachtung der Atomistik.
selbst zu denken. Da man aber sogar gewagt hat, derartiges
zu verteidigen, so schäme ich mich nicht ihrer, sondern des
Menschengeschlechts selbst, dessen Ohren dies vertragen
konnten.‟

Die Ausführungen des Augustinus schließen sich an Cicero1
an. Sie ergänzen die Meinungsäußerungen des Dionysius und
Lactantius über die Atome, indem sie auch die Wahrnehmungs-
und Erkenntnistheorie der Atomiker bekämpfen. Sie sind zu-
gleich das Scharfsinnigste, was gegen die Atome gesagt ist;
indem Augustinus die innere Konsequenz der Atomistik zugibt,
bestreitet er die Unmöglichkeit der Atome mit Berufung auf
die Unmöglichkeit, sie wahrzunehmen oder zu denken. Aber
diese Widerlegung geschieht nur mit Widerwillen; für den
Christen wäre sie nicht nötig; lieber möchte er diesen Schmutz
gar nicht erst anrühren, jedoch läßt er sich herab, ihn zu
entfernen, um zu zeigen, daß auch dies ihm ein Leichtes sei.

Das Bild, welches das Studium der Atomistik in der
patristischen Zeit darbietet, dürfte hiermit zur Genüge vervoll-
ständigt sein. Die ausreichende historische Übermittelung und
die thatsächliche Kenntnis der Atomistik stärkt nur die Ab-
wendung von derselben. Je mehr die Macht der christlichen
Lehre fortschreitet, um so mehr schwindet mit dem Interesse
an den kosmischen und physikalischen Problemen das Ver-
ständnis für eine kausale Erklärungsweise. Das Wunder reicht
überall aus; es ist geschehen in der Weltschöpfung, es ist
vollzogen durch das Leben des Heilandes, es wird erlebt all-
täglich in der Seele des Christen, die durch die Gnade Gottes
sich erlöst fühlt. Was also sollen die Bemühungen, äußerliche
Erklärungen für die Wunder der Natur aufzufinden? Das über-
lasse man den Heiden!

So lange der Mangel an physikalischem Interesse andauerte,
war von vornherein für die Atomistik nichts zu hoffen. Aber
die autoritative Macht der Kirchenlehrer sollte noch weit in die
Zeiten hineinwirken, in welchen eine selbständige Wissenschaft
sich wieder zu regen begann. Ihr Verdammungsurteil verhin-
derte einerseits die Beschäftigung mit korpuskularen Vorstel-
lungen überhaupt und erschwerte sie anderseits für diejenigen,

1 Hier namentlich De natura deorum, l. I, c. 18, 19, 24, 25, 38, 39, 43.
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[29/0047] Verachtung der Atomistik. selbst zu denken. Da man aber sogar gewagt hat, derartiges zu verteidigen, so schäme ich mich nicht ihrer, sondern des Menschengeschlechts selbst, dessen Ohren dies vertragen konnten.‟ Die Ausführungen des Augustinus schließen sich an Cicero 1 an. Sie ergänzen die Meinungsäußerungen des Dionysius und Lactantius über die Atome, indem sie auch die Wahrnehmungs- und Erkenntnistheorie der Atomiker bekämpfen. Sie sind zu- gleich das Scharfsinnigste, was gegen die Atome gesagt ist; indem Augustinus die innere Konsequenz der Atomistik zugibt, bestreitet er die Unmöglichkeit der Atome mit Berufung auf die Unmöglichkeit, sie wahrzunehmen oder zu denken. Aber diese Widerlegung geschieht nur mit Widerwillen; für den Christen wäre sie nicht nötig; lieber möchte er diesen Schmutz gar nicht erst anrühren, jedoch läßt er sich herab, ihn zu entfernen, um zu zeigen, daß auch dies ihm ein Leichtes sei. Das Bild, welches das Studium der Atomistik in der patristischen Zeit darbietet, dürfte hiermit zur Genüge vervoll- ständigt sein. Die ausreichende historische Übermittelung und die thatsächliche Kenntnis der Atomistik stärkt nur die Ab- wendung von derselben. Je mehr die Macht der christlichen Lehre fortschreitet, um so mehr schwindet mit dem Interesse an den kosmischen und physikalischen Problemen das Ver- ständnis für eine kausale Erklärungsweise. Das Wunder reicht überall aus; es ist geschehen in der Weltschöpfung, es ist vollzogen durch das Leben des Heilandes, es wird erlebt all- täglich in der Seele des Christen, die durch die Gnade Gottes sich erlöst fühlt. Was also sollen die Bemühungen, äußerliche Erklärungen für die Wunder der Natur aufzufinden? Das über- lasse man den Heiden! So lange der Mangel an physikalischem Interesse andauerte, war von vornherein für die Atomistik nichts zu hoffen. Aber die autoritative Macht der Kirchenlehrer sollte noch weit in die Zeiten hineinwirken, in welchen eine selbständige Wissenschaft sich wieder zu regen begann. Ihr Verdammungsurteil verhin- derte einerseits die Beschäftigung mit korpuskularen Vorstel- lungen überhaupt und erschwerte sie anderseits für diejenigen, 1 Hier namentlich De natura deorum, l. I, c. 18, 19, 24, 25, 38, 39, 43.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/47>, abgerufen am 29.03.2024.