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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Vernachlässigung der Atomistik.
welche sich zu derartigen Annahmen hingedrängt sahen. Ver-
boten doch noch im Jahre 1245 die Dominikaner in ihrem
Orden das Studium der Physik,1 obwohl sie die Notwendigkeit
philosophisch-dialektischer Bildung anerkannten.2

So erklärt sich zunächst, daß diejenigen Quellen der alten
Atomistik, welche in ausführlicher Weise dieselbe darstellen
oder gar verteidigen, wie Lucretius3 und Diogenes Laertius,
falls sie überhaupt bekannt waren, doch der Beachtung für
nicht würdig gehalten wurden. Vom siebenten bis zum zwölften
Jahrhundert beschränkt sich die naturphilosophische Kenntnis
im wesentlichen auf dürftige Überreste von Überlieferungen
der alten Physik, welche die platonisch-aristotelische Elementen-
lehre zur Grundlage hatten. Die neuplatonische Philosophie,
welche dem Denkbedürfnis jener Zeiten am nächsten stand,
gab, wie schon erwähnt, zur Erörterung von Fragen in wirk-
lich physikalischem Sinne keine Veranlassung. Wo aber in
zugänglichen Schriften der Alten, wie namentlich bei Cicero,
der Atomistik Erwähnung gethan wurde, so geschah dies im
polemischen Sinne und konnte nur das durch die Kirchen-
väter genährte Vorurteil unterstützen. Trotzdem finden wir
bei den beginnenden Versuchen, im Anschluß an platonische
Lehren zu einem eigenen Verständnis des Wesens der Körper
zu kommen, eine Reihe von Gedankenentwickelungen, welche
in der Geschichte der Korpuskulartheorie nicht übergangen zu
werden verdienen.



1 "Non studeant in libris physicis." Wachsmuth, Europäische Sitten-
geschichte.
Leipz. 1834. III. Bd. 1. T. S. 307.
2 v. Eicken, a. a. O. S. 593.
3 Das Lehrgedicht des Lukrez findet sich in dem Katalog der Schriften
des Klosters Bobbio im 10. Jahrhundert. Jourdain, a. a. O. S. 269.

Vernachlässigung der Atomistik.
welche sich zu derartigen Annahmen hingedrängt sahen. Ver-
boten doch noch im Jahre 1245 die Dominikaner in ihrem
Orden das Studium der Physik,1 obwohl sie die Notwendigkeit
philosophisch-dialektischer Bildung anerkannten.2

So erklärt sich zunächst, daß diejenigen Quellen der alten
Atomistik, welche in ausführlicher Weise dieselbe darstellen
oder gar verteidigen, wie Lucretius3 und Diogenes Laërtius,
falls sie überhaupt bekannt waren, doch der Beachtung für
nicht würdig gehalten wurden. Vom siebenten bis zum zwölften
Jahrhundert beschränkt sich die naturphilosophische Kenntnis
im wesentlichen auf dürftige Überreste von Überlieferungen
der alten Physik, welche die platonisch-aristotelische Elementen-
lehre zur Grundlage hatten. Die neuplatonische Philosophie,
welche dem Denkbedürfnis jener Zeiten am nächsten stand,
gab, wie schon erwähnt, zur Erörterung von Fragen in wirk-
lich physikalischem Sinne keine Veranlassung. Wo aber in
zugänglichen Schriften der Alten, wie namentlich bei Cicero,
der Atomistik Erwähnung gethan wurde, so geschah dies im
polemischen Sinne und konnte nur das durch die Kirchen-
väter genährte Vorurteil unterstützen. Trotzdem finden wir
bei den beginnenden Versuchen, im Anschluß an platonische
Lehren zu einem eigenen Verständnis des Wesens der Körper
zu kommen, eine Reihe von Gedankenentwickelungen, welche
in der Geschichte der Korpuskulartheorie nicht übergangen zu
werden verdienen.



1 „Non studeant in libris physicis.‟ Wachsmuth, Europäische Sitten-
geschichte.
Leipz. 1834. III. Bd. 1. T. S. 307.
2 v. Eicken, a. a. O. S. 593.
3 Das Lehrgedicht des Lukrez findet sich in dem Katalog der Schriften
des Klosters Bobbio im 10. Jahrhundert. Jourdain, a. a. O. S. 269.
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[30/0048] Vernachlässigung der Atomistik. welche sich zu derartigen Annahmen hingedrängt sahen. Ver- boten doch noch im Jahre 1245 die Dominikaner in ihrem Orden das Studium der Physik, 1 obwohl sie die Notwendigkeit philosophisch-dialektischer Bildung anerkannten. 2 So erklärt sich zunächst, daß diejenigen Quellen der alten Atomistik, welche in ausführlicher Weise dieselbe darstellen oder gar verteidigen, wie Lucretius 3 und Diogenes Laërtius, falls sie überhaupt bekannt waren, doch der Beachtung für nicht würdig gehalten wurden. Vom siebenten bis zum zwölften Jahrhundert beschränkt sich die naturphilosophische Kenntnis im wesentlichen auf dürftige Überreste von Überlieferungen der alten Physik, welche die platonisch-aristotelische Elementen- lehre zur Grundlage hatten. Die neuplatonische Philosophie, welche dem Denkbedürfnis jener Zeiten am nächsten stand, gab, wie schon erwähnt, zur Erörterung von Fragen in wirk- lich physikalischem Sinne keine Veranlassung. Wo aber in zugänglichen Schriften der Alten, wie namentlich bei Cicero, der Atomistik Erwähnung gethan wurde, so geschah dies im polemischen Sinne und konnte nur das durch die Kirchen- väter genährte Vorurteil unterstützen. Trotzdem finden wir bei den beginnenden Versuchen, im Anschluß an platonische Lehren zu einem eigenen Verständnis des Wesens der Körper zu kommen, eine Reihe von Gedankenentwickelungen, welche in der Geschichte der Korpuskulartheorie nicht übergangen zu werden verdienen. 1 „Non studeant in libris physicis.‟ Wachsmuth, Europäische Sitten- geschichte. Leipz. 1834. III. Bd. 1. T. S. 307. 2 v. Eicken, a. a. O. S. 593. 3 Das Lehrgedicht des Lukrez findet sich in dem Katalog der Schriften des Klosters Bobbio im 10. Jahrhundert. Jourdain, a. a. O. S. 269.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/48>, abgerufen am 21.11.2024.