Cusanus: Das Indivisible als Tendenz zur Ausdehnung.
einander sich entwickeln. Und gerade in dieser Entwickelungs- fähigkeit ist die Realität der Dinge begründet. Überall wird der einheitliche Moment als Übergang aufgefaßt, als Erzeuger des von ihm abhängigen Verlaufs der Erscheinung. Das In- divisible ist nicht mehr die Form des Kontinuums, sondern es erzeugt das Kontinuum, indem es die Mög- lichkeit der Fortsetzung bedeutet, sich zur Größe entwickelt.
Diese Vorstellungsart geht aus der mathematischen Denk- weise hervor, in welcher der Begriff der Funktion sich bereits herausgebildet hat, und wird vermöge des neuplatonischen Explikationsbegriffs auf die Weltentwickelung selbst übertragen. Es ist für die cusanische Weltauffassung wesentlich, daß alles in der Welt im engsten Zusammenhange steht und eine un- unterbrochene Kontinuität aller Stufen des Seins statthat. Am Bilde des Unendlichen soll das verdeutlicht werden. Der Ge- danke des Zusammenfallens der Gegensätze im Unendlichen ist nichts andres als das noch nicht zu genügend klarem Ausdruck gebrachte Denkmittel der Variabilität. Jede Figur wird als veränderlich vorgestellt, als fähig, neue Figuren aus sich zu erzeugen. Die gegebene Figur aber ist stets eine bestimmte. Nicolaus ringt danach, die möglichen Veränderungen der Figur in einen Begriff zusammenzufassen, und diesen einigenden Begriff glaubt er im Unendlichen zu besitzen. Nicht bloß im Unendlichgroßen, sondern auch im Unendlichkleinen sollen die Figuren ineinander übergehen, Bogen und Sehne fallen im unendlichkleinen Stücke zusammen; daher sucht er auch im Bogenelement das Gesetz der Kurve. Immer sieht er in der Tendenz zur Erstreckung das eigentliche Wesen der Ausdehnung. So gelangt er bis dicht an die Grenze, wo der Schlüssel der wissenschaftlichen Mechanik liegt. Bewegung ist ihm der Übergang von Ruhe zu Ruhe, und die Ruhe nichts andres, als die Complicatio der Bewegung; das einzelne Zeitmoment enthält die Entfaltung der ganzen Zeitreihe.
Das sind die Gedanken, welchen jener Begriff der Varia- bilität entstammt, durch den das Geschehen in der Körperwelt seine eigene Gesetzlichkeit gewinnt. Noch herrscht das theo- logische Interesse vor. Die ganze Herrlichkeit der sich ent- faltenden Welt dient nur zum Spiegel Gottes. Aber wie das Denken sich intensiver auf die Natur selbst richtet, steigt zugleich
Cusanus: Das Indivisible als Tendenz zur Ausdehnung.
einander sich entwickeln. Und gerade in dieser Entwickelungs- fähigkeit ist die Realität der Dinge begründet. Überall wird der einheitliche Moment als Übergang aufgefaßt, als Erzeuger des von ihm abhängigen Verlaufs der Erscheinung. Das In- divisible ist nicht mehr die Form des Kontinuums, sondern es erzeugt das Kontinuum, indem es die Mög- lichkeit der Fortsetzung bedeutet, sich zur Größe entwickelt.
Diese Vorstellungsart geht aus der mathematischen Denk- weise hervor, in welcher der Begriff der Funktion sich bereits herausgebildet hat, und wird vermöge des neuplatonischen Explikationsbegriffs auf die Weltentwickelung selbst übertragen. Es ist für die cusanische Weltauffassung wesentlich, daß alles in der Welt im engsten Zusammenhange steht und eine un- unterbrochene Kontinuität aller Stufen des Seins statthat. Am Bilde des Unendlichen soll das verdeutlicht werden. Der Ge- danke des Zusammenfallens der Gegensätze im Unendlichen ist nichts andres als das noch nicht zu genügend klarem Ausdruck gebrachte Denkmittel der Variabilität. Jede Figur wird als veränderlich vorgestellt, als fähig, neue Figuren aus sich zu erzeugen. Die gegebene Figur aber ist stets eine bestimmte. Nicolaus ringt danach, die möglichen Veränderungen der Figur in einen Begriff zusammenzufassen, und diesen einigenden Begriff glaubt er im Unendlichen zu besitzen. Nicht bloß im Unendlichgroßen, sondern auch im Unendlichkleinen sollen die Figuren ineinander übergehen, Bogen und Sehne fallen im unendlichkleinen Stücke zusammen; daher sucht er auch im Bogenelement das Gesetz der Kurve. Immer sieht er in der Tendenz zur Erstreckung das eigentliche Wesen der Ausdehnung. So gelangt er bis dicht an die Grenze, wo der Schlüssel der wissenschaftlichen Mechanik liegt. Bewegung ist ihm der Übergang von Ruhe zu Ruhe, und die Ruhe nichts andres, als die Complicatio der Bewegung; das einzelne Zeitmoment enthält die Entfaltung der ganzen Zeitreihe.
Das sind die Gedanken, welchen jener Begriff der Varia- bilität entstammt, durch den das Geschehen in der Körperwelt seine eigene Gesetzlichkeit gewinnt. Noch herrscht das theo- logische Interesse vor. Die ganze Herrlichkeit der sich ent- faltenden Welt dient nur zum Spiegel Gottes. Aber wie das Denken sich intensiver auf die Natur selbst richtet, steigt zugleich
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Cusanus: Das Indivisible als Tendenz zur Ausdehnung.
einander sich entwickeln. Und gerade in dieser Entwickelungs-
fähigkeit ist die Realität der Dinge begründet. Überall wird
der einheitliche Moment als Übergang aufgefaßt, als Erzeuger
des von ihm abhängigen Verlaufs der Erscheinung. Das In-
divisible ist nicht mehr die Form des Kontinuums,
sondern es erzeugt das Kontinuum, indem es die Mög-
lichkeit der Fortsetzung bedeutet, sich zur Größe entwickelt.
Diese Vorstellungsart geht aus der mathematischen Denk-
weise hervor, in welcher der Begriff der Funktion sich bereits
herausgebildet hat, und wird vermöge des neuplatonischen
Explikationsbegriffs auf die Weltentwickelung selbst übertragen.
Es ist für die cusanische Weltauffassung wesentlich, daß alles
in der Welt im engsten Zusammenhange steht und eine un-
unterbrochene Kontinuität aller Stufen des Seins statthat. Am
Bilde des Unendlichen soll das verdeutlicht werden. Der Ge-
danke des Zusammenfallens der Gegensätze im Unendlichen
ist nichts andres als das noch nicht zu genügend klarem
Ausdruck gebrachte Denkmittel der Variabilität. Jede Figur
wird als veränderlich vorgestellt, als fähig, neue Figuren aus
sich zu erzeugen. Die gegebene Figur aber ist stets eine
bestimmte. Nicolaus ringt danach, die möglichen Veränderungen
der Figur in einen Begriff zusammenzufassen, und diesen
einigenden Begriff glaubt er im Unendlichen zu besitzen. Nicht
bloß im Unendlichgroßen, sondern auch im Unendlichkleinen
sollen die Figuren ineinander übergehen, Bogen und Sehne
fallen im unendlichkleinen Stücke zusammen; daher sucht er
auch im Bogenelement das Gesetz der Kurve. Immer sieht er
in der Tendenz zur Erstreckung das eigentliche Wesen der
Ausdehnung. So gelangt er bis dicht an die Grenze, wo der
Schlüssel der wissenschaftlichen Mechanik liegt. Bewegung
ist ihm der Übergang von Ruhe zu Ruhe, und die Ruhe
nichts andres, als die Complicatio der Bewegung; das einzelne
Zeitmoment enthält die Entfaltung der ganzen Zeitreihe.
Das sind die Gedanken, welchen jener Begriff der Varia-
bilität entstammt, durch den das Geschehen in der Körperwelt
seine eigene Gesetzlichkeit gewinnt. Noch herrscht das theo-
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faltenden Welt dient nur zum Spiegel Gottes. Aber wie das
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/305>, abgerufen am 22.11.2024.
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