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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Cusanus: Erkenntnistheoretisches.
Cusanus rein durchgeführt wäre. Dies ist natürlich nicht zu
erwarten. Allerdings empfängt die Vernunft allen ihren Inhalt
aus der Sinnlichkeit, welche den Geist zu seiner Thätigkeit
weckt,1 aber dieser sinnliche Inhalt und das Denken sind doch
nicht gleichberechtigte Faktoren innerhalb des Bewußtseins
selbst. Es sind nicht die eigenen Daten des Bewußtseins, die
sich in der Ordnung der Erkenntnis als wissenschaftliche Er-
fahrung darstellen und daher die Möglichkeit sicherer Erkenntnis
gewährleisten. Der Gegensatz urbildlicher Begriffe und einer
äußeren allgemeinen Materie ist noch nicht versöhnt in dem
transcendentalen Gedanken, daß die Möglichkeit der Erfahrung
nur in der Synthesis von Bewußtseinsdaten gewährleistet ist.
Die Entfaltung der Begriffe zur Wirklichkeit geschieht mit
Hilfe eines äußeren Objekts, der Materie, welche die Vielheit
der Dinge verursacht, und dadurch wird es wieder ungewiß,
ob ein adäquates Erkennen möglich sei.2 Aber der Wechsel
zwischen verschiedenen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten3
bei Cusanus und sein unsicheres Tasten nach festem Grunde
kann sein Verdienst nicht schmälern, deutlich erkannt zu haben,
wo die Ausfüllung der Lücke zu suchen ist, welche bisher den
Fortschritt der Erkenntnis hemmte. Seine Versuche sind darauf
gerichtet, auf erkenntnistheoretischem oder auf mathematischem
Wege den Begriff des allgemeinen Zusammenhangs der Dinge
zu erfassen, indem er denselben sich vorzustellen bemüht als
begründet in der Fähigkeit der Dinge, ineinander überzugehen.
Hieraus erhellt, daß er selbst das Bedürfuis fühlte, eine Vor-
stellungsweise zu fixieren, die wir als das Denkmittel der Va-
riabilität bezeichneten.

Die Veränderlichkeit der Materie wird aktuell im Begriffe.
In der Einheit, welche das Denken als das Mittel des Erken-
nens setzt, liegt nicht mehr bloß die starre Substanzialität,
welche nicht begreifen läßt, wie der Übergang von Zustand
zu Zustand stattfindet, sondern es liegt darin das Prinzip, wo-
durch die Einheit zur Vielheit, die verschiedenen Zustände aus-

1 Vgl. Eucken, Beiträge S. 22.
2 De doct. ign. p. 2. Praecisio vero combinationem in rebus corporalibus
et adaptio congrua noti ad ignotum humanam rationem supergreditur.
3 Vgl. hierüber Falckenberg, a. a. O. S. 99 ff.

Cusanus: Erkenntnistheoretisches.
Cusanus rein durchgeführt wäre. Dies ist natürlich nicht zu
erwarten. Allerdings empfängt die Vernunft allen ihren Inhalt
aus der Sinnlichkeit, welche den Geist zu seiner Thätigkeit
weckt,1 aber dieser sinnliche Inhalt und das Denken sind doch
nicht gleichberechtigte Faktoren innerhalb des Bewußtseins
selbst. Es sind nicht die eigenen Daten des Bewußtseins, die
sich in der Ordnung der Erkenntnis als wissenschaftliche Er-
fahrung darstellen und daher die Möglichkeit sicherer Erkenntnis
gewährleisten. Der Gegensatz urbildlicher Begriffe und einer
äußeren allgemeinen Materie ist noch nicht versöhnt in dem
transcendentalen Gedanken, daß die Möglichkeit der Erfahrung
nur in der Synthesis von Bewußtseinsdaten gewährleistet ist.
Die Entfaltung der Begriffe zur Wirklichkeit geschieht mit
Hilfe eines äußeren Objekts, der Materie, welche die Vielheit
der Dinge verursacht, und dadurch wird es wieder ungewiß,
ob ein adäquates Erkennen möglich sei.2 Aber der Wechsel
zwischen verschiedenen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten3
bei Cusanus und sein unsicheres Tasten nach festem Grunde
kann sein Verdienst nicht schmälern, deutlich erkannt zu haben,
wo die Ausfüllung der Lücke zu suchen ist, welche bisher den
Fortschritt der Erkenntnis hemmte. Seine Versuche sind darauf
gerichtet, auf erkenntnistheoretischem oder auf mathematischem
Wege den Begriff des allgemeinen Zusammenhangs der Dinge
zu erfassen, indem er denselben sich vorzustellen bemüht als
begründet in der Fähigkeit der Dinge, ineinander überzugehen.
Hieraus erhellt, daß er selbst das Bedürfuis fühlte, eine Vor-
stellungsweise zu fixieren, die wir als das Denkmittel der Va-
riabilität bezeichneten.

Die Veränderlichkeit der Materie wird aktuell im Begriffe.
In der Einheit, welche das Denken als das Mittel des Erken-
nens setzt, liegt nicht mehr bloß die starre Substanzialität,
welche nicht begreifen läßt, wie der Übergang von Zustand
zu Zustand stattfindet, sondern es liegt darin das Prinzip, wo-
durch die Einheit zur Vielheit, die verschiedenen Zustände aus-

1 Vgl. Eucken, Beiträge S. 22.
2 De doct. ign. p. 2. Praecisio vero combinationem in rebus corporalibus
et adaptio congrua noti ad ignotum humanam rationem supergreditur.
3 Vgl. hierüber Falckenberg, a. a. O. S. 99 ff.
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[286/0304] Cusanus: Erkenntnistheoretisches. Cusanus rein durchgeführt wäre. Dies ist natürlich nicht zu erwarten. Allerdings empfängt die Vernunft allen ihren Inhalt aus der Sinnlichkeit, welche den Geist zu seiner Thätigkeit weckt, 1 aber dieser sinnliche Inhalt und das Denken sind doch nicht gleichberechtigte Faktoren innerhalb des Bewußtseins selbst. Es sind nicht die eigenen Daten des Bewußtseins, die sich in der Ordnung der Erkenntnis als wissenschaftliche Er- fahrung darstellen und daher die Möglichkeit sicherer Erkenntnis gewährleisten. Der Gegensatz urbildlicher Begriffe und einer äußeren allgemeinen Materie ist noch nicht versöhnt in dem transcendentalen Gedanken, daß die Möglichkeit der Erfahrung nur in der Synthesis von Bewußtseinsdaten gewährleistet ist. Die Entfaltung der Begriffe zur Wirklichkeit geschieht mit Hilfe eines äußeren Objekts, der Materie, welche die Vielheit der Dinge verursacht, und dadurch wird es wieder ungewiß, ob ein adäquates Erkennen möglich sei. 2 Aber der Wechsel zwischen verschiedenen erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten 3 bei Cusanus und sein unsicheres Tasten nach festem Grunde kann sein Verdienst nicht schmälern, deutlich erkannt zu haben, wo die Ausfüllung der Lücke zu suchen ist, welche bisher den Fortschritt der Erkenntnis hemmte. Seine Versuche sind darauf gerichtet, auf erkenntnistheoretischem oder auf mathematischem Wege den Begriff des allgemeinen Zusammenhangs der Dinge zu erfassen, indem er denselben sich vorzustellen bemüht als begründet in der Fähigkeit der Dinge, ineinander überzugehen. Hieraus erhellt, daß er selbst das Bedürfuis fühlte, eine Vor- stellungsweise zu fixieren, die wir als das Denkmittel der Va- riabilität bezeichneten. Die Veränderlichkeit der Materie wird aktuell im Begriffe. In der Einheit, welche das Denken als das Mittel des Erken- nens setzt, liegt nicht mehr bloß die starre Substanzialität, welche nicht begreifen läßt, wie der Übergang von Zustand zu Zustand stattfindet, sondern es liegt darin das Prinzip, wo- durch die Einheit zur Vielheit, die verschiedenen Zustände aus- 1 Vgl. Eucken, Beiträge S. 22. 2 De doct. ign. p. 2. Praecisio vero combinationem in rebus corporalibus et adaptio congrua noti ad ignotum humanam rationem supergreditur. 3 Vgl. hierüber Falckenberg, a. a. O. S. 99 ff.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/304>, abgerufen am 18.05.2024.