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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Cusanus: Zusammenfallen d. Gegensätze im Unendlichen.
wenn uns dieses selbst allerdings auch unerreichbar bleibt, weil
es zum Endlichen in keinem meßbaren Verhältnisse steht.
Aber nicht nur in entfernter Ähnlichkeit, sondern in über-
raschender Nähe zeigt uns der Spiegel der Mathematik das
Bild der Unendlichkeit.1 Das mathematisch Unendliche ver-
anschaulicht uns am besten das metaphysisch Unendliche.2

Seine Methode, welche er zur Untersuchung des Unend-
lichen empfiehlt, besteht in folgendem. Zuerst solle man end-
liche mathematische Figuren betrachten und die gegenseitige
Abhängigkeit ihrer Eigenschaften erforschen; alsdann solle man
diese Beziehungen auf die unendlich groß werdenden Figuren
übertragen. Hiervon könne man dann Anwendung machen
auf das Einfache und Absolute, bei welchem von jeder Figur ab-
gesehen wird.3 Anwendungen hiervon werden in verschiedenster
Weise versucht.4 So wird gezeigt, daß die Krümmung des
Kreises um so geringer wird, je größer der Halbmesser ist;
daraus folgt, daß für einen unendlich großen Radius der
Kreis in die Gerade übergeht. Wenn man in einem Dreieck
die Endpunkte der Grundlinie immer weiter hinausrückt, so daß
der Winkel an der Spitze sich einem gestreckten nähert, so
fallen -- dies ins Unendliche fortgesetzt -- die drei Seiten des
Dreiecks in eine unendliche Gerade zusammen. Diese selbst
kann wieder als ein Kreis angesehen werden, u. s. w. Ein Punkt,
der mit unendlicher Geschwindigkeit in einem Kreise umläuft,
ist in jedem Moment an jeder Stelle desselben und daher in
Ruhe, Alle diese Betrachtungen kommen auf die Vorstellung
hinaus, daß im Unendlichen alle Widersprüche zusammenfallen
und Entgegengesetztes zugleich ist. Cusanus will daran zeigen,
daß wir das Unendliche nicht denken können, ohne die Unter-
schiede des Endlichen aufzuheben, daß aber in der Unendlich-
keit Gottes alles das, was unterschieden und gegensätzlich in
der endlichen Welt vorhanden ist, einheitlich und widerspruch-
los zusammengefaltet liegen kann. Das Willkürliche besteht nur
darin, daß er den richtig gebildeten Begriff des Unendlichen,

1 Complementum theologicum c. 1. p. 1107.
2 Zahlreiche Belegstellen bei Falckenberg, a. a. O. S. 144.
3 De docta ign. c. 12. p. 9.
4 A. a. O. c. 13 ff. p. 9 ff.

Cusanus: Zusammenfallen d. Gegensätze im Unendlichen.
wenn uns dieses selbst allerdings auch unerreichbar bleibt, weil
es zum Endlichen in keinem meßbaren Verhältnisse steht.
Aber nicht nur in entfernter Ähnlichkeit, sondern in über-
raschender Nähe zeigt uns der Spiegel der Mathematik das
Bild der Unendlichkeit.1 Das mathematisch Unendliche ver-
anschaulicht uns am besten das metaphysisch Unendliche.2

Seine Methode, welche er zur Untersuchung des Unend-
lichen empfiehlt, besteht in folgendem. Zuerst solle man end-
liche mathematische Figuren betrachten und die gegenseitige
Abhängigkeit ihrer Eigenschaften erforschen; alsdann solle man
diese Beziehungen auf die unendlich groß werdenden Figuren
übertragen. Hiervon könne man dann Anwendung machen
auf das Einfache und Absolute, bei welchem von jeder Figur ab-
gesehen wird.3 Anwendungen hiervon werden in verschiedenster
Weise versucht.4 So wird gezeigt, daß die Krümmung des
Kreises um so geringer wird, je größer der Halbmesser ist;
daraus folgt, daß für einen unendlich großen Radius der
Kreis in die Gerade übergeht. Wenn man in einem Dreieck
die Endpunkte der Grundlinie immer weiter hinausrückt, so daß
der Winkel an der Spitze sich einem gestreckten nähert, so
fallen — dies ins Unendliche fortgesetzt — die drei Seiten des
Dreiecks in eine unendliche Gerade zusammen. Diese selbst
kann wieder als ein Kreis angesehen werden, u. s. w. Ein Punkt,
der mit unendlicher Geschwindigkeit in einem Kreise umläuft,
ist in jedem Moment an jeder Stelle desselben und daher in
Ruhe, Alle diese Betrachtungen kommen auf die Vorstellung
hinaus, daß im Unendlichen alle Widersprüche zusammenfallen
und Entgegengesetztes zugleich ist. Cusanus will daran zeigen,
daß wir das Unendliche nicht denken können, ohne die Unter-
schiede des Endlichen aufzuheben, daß aber in der Unendlich-
keit Gottes alles das, was unterschieden und gegensätzlich in
der endlichen Welt vorhanden ist, einheitlich und widerspruch-
los zusammengefaltet liegen kann. Das Willkürliche besteht nur
darin, daß er den richtig gebildeten Begriff des Unendlichen,

1 Complementum theologicum c. 1. p. 1107.
2 Zahlreiche Belegstellen bei Falckenberg, a. a. O. S. 144.
3 De docta ign. c. 12. p. 9.
4 A. a. O. c. 13 ff. p. 9 ff.
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[283/0301] Cusanus: Zusammenfallen d. Gegensätze im Unendlichen. wenn uns dieses selbst allerdings auch unerreichbar bleibt, weil es zum Endlichen in keinem meßbaren Verhältnisse steht. Aber nicht nur in entfernter Ähnlichkeit, sondern in über- raschender Nähe zeigt uns der Spiegel der Mathematik das Bild der Unendlichkeit. 1 Das mathematisch Unendliche ver- anschaulicht uns am besten das metaphysisch Unendliche. 2 Seine Methode, welche er zur Untersuchung des Unend- lichen empfiehlt, besteht in folgendem. Zuerst solle man end- liche mathematische Figuren betrachten und die gegenseitige Abhängigkeit ihrer Eigenschaften erforschen; alsdann solle man diese Beziehungen auf die unendlich groß werdenden Figuren übertragen. Hiervon könne man dann Anwendung machen auf das Einfache und Absolute, bei welchem von jeder Figur ab- gesehen wird. 3 Anwendungen hiervon werden in verschiedenster Weise versucht. 4 So wird gezeigt, daß die Krümmung des Kreises um so geringer wird, je größer der Halbmesser ist; daraus folgt, daß für einen unendlich großen Radius der Kreis in die Gerade übergeht. Wenn man in einem Dreieck die Endpunkte der Grundlinie immer weiter hinausrückt, so daß der Winkel an der Spitze sich einem gestreckten nähert, so fallen — dies ins Unendliche fortgesetzt — die drei Seiten des Dreiecks in eine unendliche Gerade zusammen. Diese selbst kann wieder als ein Kreis angesehen werden, u. s. w. Ein Punkt, der mit unendlicher Geschwindigkeit in einem Kreise umläuft, ist in jedem Moment an jeder Stelle desselben und daher in Ruhe, Alle diese Betrachtungen kommen auf die Vorstellung hinaus, daß im Unendlichen alle Widersprüche zusammenfallen und Entgegengesetztes zugleich ist. Cusanus will daran zeigen, daß wir das Unendliche nicht denken können, ohne die Unter- schiede des Endlichen aufzuheben, daß aber in der Unendlich- keit Gottes alles das, was unterschieden und gegensätzlich in der endlichen Welt vorhanden ist, einheitlich und widerspruch- los zusammengefaltet liegen kann. Das Willkürliche besteht nur darin, daß er den richtig gebildeten Begriff des Unendlichen, 1 Complementum theologicum c. 1. p. 1107. 2 Zahlreiche Belegstellen bei Falckenberg, a. a. O. S. 144. 3 De docta ign. c. 12. p. 9. 4 A. a. O. c. 13 ff. p. 9 ff.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/301>, abgerufen am 22.11.2024.