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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Cusanus: Vergebliche Grenzübergänge.
nämlich die Möglichkeit der grenzenlosen Zunahme, vertauscht
mit dem durch den bloßen Progreß nicht zu erreichenden Be-
griffe der vollendeten Unendlichkeit oder des Absoluten, in
welchem der Weg seiner Erreichung nicht mehr mitgedacht ist.
Nur die beiden ersten Regeln Cusas (s. o.) zur Untersuchung
des Unendlichen sind zulässig, und der Begriff des Unendlichen
bleibt verständlich, so lange dasselbe als werdend gefaßt wird;
unbrauchbar aber wird er, wenn man das Unendliche als ab-
solute Größe ansehen will, weil mit dem Gesetz des Werdens
der Begriff der Größe im Unendlichen seine Geltung verliert.
Das Gesetz des Wachstums selbst in einen Begriff zu bannen,
will Cusanus nicht gelingen. Von bleibendem Werte ist bei
diesen Spekulationen des Cusaners nur seine Empfehlung des
Studiums der Grenzübergänge überhaupt, wenn er auch selbst
noch nicht imstande war, einen richtigen Grenzübergang zu
vollziehen. Der Gegensatz zwischen der Kühnheit der Idee
und der Unzulänglichkeit ihrer Ausführung tritt noch mehr
hervor, wo es sich nicht um Übergänge vom Endlichen zum
Unendlichgroßen, sondern vom Unendlichkleinen zum Endlichen
handelt. Hier schwebt ihm der so ungemein fruchtbare Grund-
gedanke der Infinitesimalrechnung vor, aber er weiß nicht aus-
findig zu machen, wie derselbe ins Leben zu setzen ist. Auch
in der Mathematik will er die Erkenntnis durch Untersuchung
des Zusammenfallens der Gegensätze erreichen. Die Gegensätze
sind die krumme und gerade Linie, der Bogen und seine Sehne.
Bei einem unendlichkleinen Stück der Kurve fallen Bogen und
Sehne zusammen; obgleich es einen unendlichkleinen Bogen
actu nicht geben kann, sieht der Intellekt doch ein, daß dies
so sein müsse.1 Wenn es nun gelänge, zwei Gerade anzugeben,
deren Verhältnis gleich ist dem Verhältnisse des Bogens zu
seiner Sehne, so würde man, meint Cusanus, daraus die Länge
des Bogens ermitteln können. Er versucht dieses Verfahren
für den Kreis durchzuführen, indem er passende Linien dem
Bogen und der Sehne hinzufügt und gelangt dadurch zu einer
vermeintlichen Rektifikation des Kreises. Schließlich empfiehlt
er dasselbe Verfahren auch für andre Kurven als den einzigen
Weg, zu dem mathematischen Wissen zu gelangen, was dem

1 De mathematica perfectione. p. 1121.

Cusanus: Vergebliche Grenzübergänge.
nämlich die Möglichkeit der grenzenlosen Zunahme, vertauscht
mit dem durch den bloßen Progreß nicht zu erreichenden Be-
griffe der vollendeten Unendlichkeit oder des Absoluten, in
welchem der Weg seiner Erreichung nicht mehr mitgedacht ist.
Nur die beiden ersten Regeln Cusas (s. o.) zur Untersuchung
des Unendlichen sind zulässig, und der Begriff des Unendlichen
bleibt verständlich, so lange dasselbe als werdend gefaßt wird;
unbrauchbar aber wird er, wenn man das Unendliche als ab-
solute Größe ansehen will, weil mit dem Gesetz des Werdens
der Begriff der Größe im Unendlichen seine Geltung verliert.
Das Gesetz des Wachstums selbst in einen Begriff zu bannen,
will Cusanus nicht gelingen. Von bleibendem Werte ist bei
diesen Spekulationen des Cusaners nur seine Empfehlung des
Studiums der Grenzübergänge überhaupt, wenn er auch selbst
noch nicht imstande war, einen richtigen Grenzübergang zu
vollziehen. Der Gegensatz zwischen der Kühnheit der Idee
und der Unzulänglichkeit ihrer Ausführung tritt noch mehr
hervor, wo es sich nicht um Übergänge vom Endlichen zum
Unendlichgroßen, sondern vom Unendlichkleinen zum Endlichen
handelt. Hier schwebt ihm der so ungemein fruchtbare Grund-
gedanke der Infinitesimalrechnung vor, aber er weiß nicht aus-
findig zu machen, wie derselbe ins Leben zu setzen ist. Auch
in der Mathematik will er die Erkenntnis durch Untersuchung
des Zusammenfallens der Gegensätze erreichen. Die Gegensätze
sind die krumme und gerade Linie, der Bogen und seine Sehne.
Bei einem unendlichkleinen Stück der Kurve fallen Bogen und
Sehne zusammen; obgleich es einen unendlichkleinen Bogen
actu nicht geben kann, sieht der Intellekt doch ein, daß dies
so sein müsse.1 Wenn es nun gelänge, zwei Gerade anzugeben,
deren Verhältnis gleich ist dem Verhältnisse des Bogens zu
seiner Sehne, so würde man, meint Cusanus, daraus die Länge
des Bogens ermitteln können. Er versucht dieses Verfahren
für den Kreis durchzuführen, indem er passende Linien dem
Bogen und der Sehne hinzufügt und gelangt dadurch zu einer
vermeintlichen Rektifikation des Kreises. Schließlich empfiehlt
er dasselbe Verfahren auch für andre Kurven als den einzigen
Weg, zu dem mathematischen Wissen zu gelangen, was dem

1 De mathematica perfectione. p. 1121.
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[284/0302] Cusanus: Vergebliche Grenzübergänge. nämlich die Möglichkeit der grenzenlosen Zunahme, vertauscht mit dem durch den bloßen Progreß nicht zu erreichenden Be- griffe der vollendeten Unendlichkeit oder des Absoluten, in welchem der Weg seiner Erreichung nicht mehr mitgedacht ist. Nur die beiden ersten Regeln Cusas (s. o.) zur Untersuchung des Unendlichen sind zulässig, und der Begriff des Unendlichen bleibt verständlich, so lange dasselbe als werdend gefaßt wird; unbrauchbar aber wird er, wenn man das Unendliche als ab- solute Größe ansehen will, weil mit dem Gesetz des Werdens der Begriff der Größe im Unendlichen seine Geltung verliert. Das Gesetz des Wachstums selbst in einen Begriff zu bannen, will Cusanus nicht gelingen. Von bleibendem Werte ist bei diesen Spekulationen des Cusaners nur seine Empfehlung des Studiums der Grenzübergänge überhaupt, wenn er auch selbst noch nicht imstande war, einen richtigen Grenzübergang zu vollziehen. Der Gegensatz zwischen der Kühnheit der Idee und der Unzulänglichkeit ihrer Ausführung tritt noch mehr hervor, wo es sich nicht um Übergänge vom Endlichen zum Unendlichgroßen, sondern vom Unendlichkleinen zum Endlichen handelt. Hier schwebt ihm der so ungemein fruchtbare Grund- gedanke der Infinitesimalrechnung vor, aber er weiß nicht aus- findig zu machen, wie derselbe ins Leben zu setzen ist. Auch in der Mathematik will er die Erkenntnis durch Untersuchung des Zusammenfallens der Gegensätze erreichen. Die Gegensätze sind die krumme und gerade Linie, der Bogen und seine Sehne. Bei einem unendlichkleinen Stück der Kurve fallen Bogen und Sehne zusammen; obgleich es einen unendlichkleinen Bogen actu nicht geben kann, sieht der Intellekt doch ein, daß dies so sein müsse. 1 Wenn es nun gelänge, zwei Gerade anzugeben, deren Verhältnis gleich ist dem Verhältnisse des Bogens zu seiner Sehne, so würde man, meint Cusanus, daraus die Länge des Bogens ermitteln können. Er versucht dieses Verfahren für den Kreis durchzuführen, indem er passende Linien dem Bogen und der Sehne hinzufügt und gelangt dadurch zu einer vermeintlichen Rektifikation des Kreises. Schließlich empfiehlt er dasselbe Verfahren auch für andre Kurven als den einzigen Weg, zu dem mathematischen Wissen zu gelangen, was dem 1 De mathematica perfectione. p. 1121.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/302>, abgerufen am 18.05.2024.