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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Oresmius: De latitudinibus formarum.
unsren Zweck ein andres Werk des Oresmius, der Tractatus
de latitudinibus formarum
,1 in welchem die Darstellung einer
veränderlichen Größe (forma) in graphischer Weise nach dem
Prinzip des Koordinaten gelehrt wird. Die graphische Darstel-
lung enthält den Begriff der Funktion, die Ordinate (latitudo)
wird als eine Funktion der Abscisse (longitudo) gefaßt, und
es fällt dadurch ein neues Licht auf den dunkeln Begriff der
Veränderlichkeit des Stetigen. Nicht nur der Begriff der
variablen Größe ist ausgebildet, sondern selbst derjenige der
Tendenz zur Veränderung und der Zusammenhang dieses
Grades der Veränderlichkeit mit der Eigenschaft der "Funk-
tion". Die Veränderung gewinnt nicht bloß Anschaulichkeit,
sondern sogar die Möglichkeit einer Darstellbarkeit durch
Größenbeziehungen. Hierdurch mußte der Gedanke eines
Grenzüberganges eine entschiedene Förderung erhalten, indem
jede Vermehrung der Bestimmungspunkte einer Kurve die ge-
brochene Linie der stetig gekrümmten annäherte, so daß selbst
eine unendlich kleine Veränderung durch eine kleine endliche
Veränderung zu messen nicht unmöglich scheinen durfte. Daß
diese Methode am Ende des 14. Jahrhunderts den Mathema-
tikern eine wohlbekannte war, beweist, daß sie um diese Zeit
auf Universitäten gelehrt wurde.2 Es erklärt uns dies, daß
Cusanus in seinen mathematischen Betrachtungen den Grenz-
übergang von endlichen zu unendlich kleinen Bogen und umge-
kehrt ohne Scheu, wenn auch allerdings ohne Kritik, anwendet.
Seine mathematischen Kenntnisse galten seiner Zeit als sehr
bedeutend,3 und er selbst legt großen Wert auf mathematische
Untersuchungen; denn er hält sie für das einzige Mittel, dem
Geheimnis des Unendlichen sich vergleichungsweise zu nähern,

1 Curtze, a. a. O. XIII. S. 67, bes. S. 92--97.
2 Hankel, S. 351.
3 Das wegwerfende Urteil Hankels über Cusanus als Mathematiker
(Gesch. d. Math. S. 352) ist in Rücksicht auf die ganze Denkart des
Cusaners und den Stand der Mathematik seiner Zeit zu hart. -- Es mag hier
bemerkt werden, daß Nikolaus' Lehrer in der Mathematik der berühmte
Astronom Paolo del Pozzo Toscanelli, genannt Paulus Physicus war
(1397--1482), welcher seinen Schüler überlebte und dessen Name besonders
bekannt ist durch den Einfluß, welchen er durch seine Annahme von der
weiten Erstreckung Asiens nach Osten auf das Wagnis des Columbus übte.
(S. Apelt, a. a. O. S. 9 ff.)

Oresmius: De latitudinibus formarum.
unsren Zweck ein andres Werk des Oresmius, der Tractatus
de latitudinibus formarum
,1 in welchem die Darstellung einer
veränderlichen Größe (forma) in graphischer Weise nach dem
Prinzip des Koordinaten gelehrt wird. Die graphische Darstel-
lung enthält den Begriff der Funktion, die Ordinate (latitudo)
wird als eine Funktion der Abscisse (longitudo) gefaßt, und
es fällt dadurch ein neues Licht auf den dunkeln Begriff der
Veränderlichkeit des Stetigen. Nicht nur der Begriff der
variablen Größe ist ausgebildet, sondern selbst derjenige der
Tendenz zur Veränderung und der Zusammenhang dieses
Grades der Veränderlichkeit mit der Eigenschaft der „Funk-
tion‟. Die Veränderung gewinnt nicht bloß Anschaulichkeit,
sondern sogar die Möglichkeit einer Darstellbarkeit durch
Größenbeziehungen. Hierdurch mußte der Gedanke eines
Grenzüberganges eine entschiedene Förderung erhalten, indem
jede Vermehrung der Bestimmungspunkte einer Kurve die ge-
brochene Linie der stetig gekrümmten annäherte, so daß selbst
eine unendlich kleine Veränderung durch eine kleine endliche
Veränderung zu messen nicht unmöglich scheinen durfte. Daß
diese Methode am Ende des 14. Jahrhunderts den Mathema-
tikern eine wohlbekannte war, beweist, daß sie um diese Zeit
auf Universitäten gelehrt wurde.2 Es erklärt uns dies, daß
Cusanus in seinen mathematischen Betrachtungen den Grenz-
übergang von endlichen zu unendlich kleinen Bogen und umge-
kehrt ohne Scheu, wenn auch allerdings ohne Kritik, anwendet.
Seine mathematischen Kenntnisse galten seiner Zeit als sehr
bedeutend,3 und er selbst legt großen Wert auf mathematische
Untersuchungen; denn er hält sie für das einzige Mittel, dem
Geheimnis des Unendlichen sich vergleichungsweise zu nähern,

1 Curtze, a. a. O. XIII. S. 67, bes. S. 92—97.
2 Hankel, S. 351.
3 Das wegwerfende Urteil Hankels über Cusanus als Mathematiker
(Gesch. d. Math. S. 352) ist in Rücksicht auf die ganze Denkart des
Cusaners und den Stand der Mathematik seiner Zeit zu hart. — Es mag hier
bemerkt werden, daß Nikolaus’ Lehrer in der Mathematik der berühmte
Astronom Paolo del Pozzo Toscanelli, genannt Paulus Physicus war
(1397—1482), welcher seinen Schüler überlebte und dessen Name besonders
bekannt ist durch den Einfluß, welchen er durch seine Annahme von der
weiten Erstreckung Asiens nach Osten auf das Wagnis des Columbus übte.
(S. Apelt, a. a. O. S. 9 ff.)
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[282/0300] Oresmius: De latitudinibus formarum. unsren Zweck ein andres Werk des Oresmius, der Tractatus de latitudinibus formarum, 1 in welchem die Darstellung einer veränderlichen Größe (forma) in graphischer Weise nach dem Prinzip des Koordinaten gelehrt wird. Die graphische Darstel- lung enthält den Begriff der Funktion, die Ordinate (latitudo) wird als eine Funktion der Abscisse (longitudo) gefaßt, und es fällt dadurch ein neues Licht auf den dunkeln Begriff der Veränderlichkeit des Stetigen. Nicht nur der Begriff der variablen Größe ist ausgebildet, sondern selbst derjenige der Tendenz zur Veränderung und der Zusammenhang dieses Grades der Veränderlichkeit mit der Eigenschaft der „Funk- tion‟. Die Veränderung gewinnt nicht bloß Anschaulichkeit, sondern sogar die Möglichkeit einer Darstellbarkeit durch Größenbeziehungen. Hierdurch mußte der Gedanke eines Grenzüberganges eine entschiedene Förderung erhalten, indem jede Vermehrung der Bestimmungspunkte einer Kurve die ge- brochene Linie der stetig gekrümmten annäherte, so daß selbst eine unendlich kleine Veränderung durch eine kleine endliche Veränderung zu messen nicht unmöglich scheinen durfte. Daß diese Methode am Ende des 14. Jahrhunderts den Mathema- tikern eine wohlbekannte war, beweist, daß sie um diese Zeit auf Universitäten gelehrt wurde. 2 Es erklärt uns dies, daß Cusanus in seinen mathematischen Betrachtungen den Grenz- übergang von endlichen zu unendlich kleinen Bogen und umge- kehrt ohne Scheu, wenn auch allerdings ohne Kritik, anwendet. Seine mathematischen Kenntnisse galten seiner Zeit als sehr bedeutend, 3 und er selbst legt großen Wert auf mathematische Untersuchungen; denn er hält sie für das einzige Mittel, dem Geheimnis des Unendlichen sich vergleichungsweise zu nähern, 1 Curtze, a. a. O. XIII. S. 67, bes. S. 92—97. 2 Hankel, S. 351. 3 Das wegwerfende Urteil Hankels über Cusanus als Mathematiker (Gesch. d. Math. S. 352) ist in Rücksicht auf die ganze Denkart des Cusaners und den Stand der Mathematik seiner Zeit zu hart. — Es mag hier bemerkt werden, daß Nikolaus’ Lehrer in der Mathematik der berühmte Astronom Paolo del Pozzo Toscanelli, genannt Paulus Physicus war (1397—1482), welcher seinen Schüler überlebte und dessen Name besonders bekannt ist durch den Einfluß, welchen er durch seine Annahme von der weiten Erstreckung Asiens nach Osten auf das Wagnis des Columbus übte. (S. Apelt, a. a. O. S. 9 ff.)

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 282. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/300>, abgerufen am 18.05.2024.