Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite

Cusanus: Erdbewegung. Mathematik.
obwohl wir dieselbe nicht merken, weil uns die Vergleichung
mit einem festen Punkte fehlt.1 Die Bewegung der Erde dachte
sich Cusanus, um die Schiefe der Ekliptik und die Präzession
der Äquinoktien zu erklären, in einer doppelten Axendrehung
bestehend, d. h. in einer Rotation um ihre Axe von Pol zu Pol,
und diese Welt-Axe selbst drehbar um eine zweite, deren Pole
im Äquator liegen; während er zugleich, um die tägliche Be-
wegung der Sterne zu erhalten, dem Himmelsgewölbe eine
Drehung in entgegengesetzter Richtung von der doppelten
Geschwindigkeit gab.2 Auch mit dieser Vorstellung war einer
der wichtigsten Sätze der aristotelischen Physik durchbrochen.
In jeder Hinsicht ist Cusanus der Vorkämpfer aller der Ideen,
welche die Erneuerung der Wissenschaften zur Vollendung
gebracht haben.

Es bleibt nur noch übrig, eine Thätigkeit des Cusanus zu
besprechen, welche nicht nur für die Gestaltung seiner Philoso-
phie, sondern für die Entwickelung der Korpuskulartheorie insbe-
sondere von großer Bedeutung ist, nämlich seine Beschäftigung
mit der Mathematik; und zwar sind es die Untersuchung des
Unendlichen und die Versuche, Grenzübergänge zu bewerk-
stelligen, welche hier Erwähnung verdienen.

Die Mathematik stand zu Cusanus' Zeit noch ziemlich auf
dem Standpunkte, wie sie von den Arabern überliefert war.
Was dieselben in der Arithmetik geleistet hatten, war durch
Leonardo Fibonacci aus Pisa in seinem Liber Abaci 1202 (ver-
bessert 1228) dem Abendlande in strenger und systematischer
Form bekannt gemacht worden. Ein Fortschritt wurde im
14. Jahrhundert durch Nicole Oresme (Oresmius) (+ 1382) ge-
macht, welcher in seinem Algorismus proportionum3 die Lehre
von der Rechnung mit Bruchpotenzen in fast moderner Be-
zeichnungsart und zum Teil mit dem Gebrauch von Buchstaben
als allgemeine Zahlen vortrug. Noch wichtiger aber ist für

1 De docta ign. lib. II. c. 11 u. 12. p. 38 f.
2 Wie sich Cusanus die Bewegung der Erde gedacht hat, geht aus hand-
schriftlichen Notizen hervor, die Clemens veröffentlicht hat in "Giordano
Bruno und Nicolaus von Cusa
," Bonn 1847, S. 97--100. Vgl. hierüber Apelt,
Ref. d. Sternkunde, S. 23 f., sowie S. Günther, Studien, S. 25 ff.
3 Herausg. v. M. Curtze, Berlin 1868. Vgl. M. Curtze, Zeitschr. f. Math.
u. Phys.
XIII. S. 66 ff.

Cusanus: Erdbewegung. Mathematik.
obwohl wir dieselbe nicht merken, weil uns die Vergleichung
mit einem festen Punkte fehlt.1 Die Bewegung der Erde dachte
sich Cusanus, um die Schiefe der Ekliptik und die Präzession
der Äquinoktien zu erklären, in einer doppelten Axendrehung
bestehend, d. h. in einer Rotation um ihre Axe von Pol zu Pol,
und diese Welt-Axe selbst drehbar um eine zweite, deren Pole
im Äquator liegen; während er zugleich, um die tägliche Be-
wegung der Sterne zu erhalten, dem Himmelsgewölbe eine
Drehung in entgegengesetzter Richtung von der doppelten
Geschwindigkeit gab.2 Auch mit dieser Vorstellung war einer
der wichtigsten Sätze der aristotelischen Physik durchbrochen.
In jeder Hinsicht ist Cusanus der Vorkämpfer aller der Ideen,
welche die Erneuerung der Wissenschaften zur Vollendung
gebracht haben.

Es bleibt nur noch übrig, eine Thätigkeit des Cusanus zu
besprechen, welche nicht nur für die Gestaltung seiner Philoso-
phie, sondern für die Entwickelung der Korpuskulartheorie insbe-
sondere von großer Bedeutung ist, nämlich seine Beschäftigung
mit der Mathematik; und zwar sind es die Untersuchung des
Unendlichen und die Versuche, Grenzübergänge zu bewerk-
stelligen, welche hier Erwähnung verdienen.

Die Mathematik stand zu Cusanus’ Zeit noch ziemlich auf
dem Standpunkte, wie sie von den Arabern überliefert war.
Was dieselben in der Arithmetik geleistet hatten, war durch
Leonardo Fibonacci aus Pisa in seinem Liber Abaci 1202 (ver-
bessert 1228) dem Abendlande in strenger und systematischer
Form bekannt gemacht worden. Ein Fortschritt wurde im
14. Jahrhundert durch Nicole Oresme (Oresmius) († 1382) ge-
macht, welcher in seinem Algorismus proportionum3 die Lehre
von der Rechnung mit Bruchpotenzen in fast moderner Be-
zeichnungsart und zum Teil mit dem Gebrauch von Buchstaben
als allgemeine Zahlen vortrug. Noch wichtiger aber ist für

1 De docta ign. lib. II. c. 11 u. 12. p. 38 f.
2 Wie sich Cusanus die Bewegung der Erde gedacht hat, geht aus hand-
schriftlichen Notizen hervor, die Clemens veröffentlicht hat in „Giordano
Bruno und Nicolaus von Cusa
,‟ Bonn 1847, S. 97—100. Vgl. hierüber Apelt,
Ref. d. Sternkunde, S. 23 f., sowie S. Günther, Studien, S. 25 ff.
3 Herausg. v. M. Curtze, Berlin 1868. Vgl. M. Curtze, Zeitschr. f. Math.
u. Phys.
XIII. S. 66 ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0299" n="281"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#k">Cusanus</hi>: Erdbewegung. Mathematik.</fw><lb/>
obwohl wir dieselbe nicht merken, weil uns die Vergleichung<lb/>
mit einem festen Punkte fehlt.<note place="foot" n="1"><hi rendition="#i">De docta ign.</hi> lib. II. c. 11 u. 12. p. 38 f.</note> Die Bewegung der Erde dachte<lb/>
sich <hi rendition="#k">Cusanus</hi>, um die Schiefe der Ekliptik und die Präzession<lb/>
der Äquinoktien zu erklären, in einer doppelten Axendrehung<lb/>
bestehend, d. h. in einer Rotation um ihre Axe von Pol zu Pol,<lb/>
und diese Welt-Axe selbst drehbar um eine zweite, deren Pole<lb/>
im Äquator liegen; während er zugleich, um die tägliche Be-<lb/>
wegung der Sterne zu erhalten, dem Himmelsgewölbe eine<lb/>
Drehung in entgegengesetzter Richtung von der doppelten<lb/>
Geschwindigkeit gab.<note place="foot" n="2">Wie sich <hi rendition="#k">Cusanus</hi> die Bewegung der Erde gedacht hat, geht aus hand-<lb/>
schriftlichen Notizen hervor, die <hi rendition="#k">Clemens</hi> veröffentlicht hat in &#x201E;<hi rendition="#i">Giordano<lb/>
Bruno und Nicolaus von Cusa</hi>,&#x201F; Bonn 1847, S. 97&#x2014;100. Vgl. hierüber <hi rendition="#k">Apelt</hi>,<lb/><hi rendition="#i">Ref. d. Sternkunde</hi>, S. 23 f., sowie S. <hi rendition="#k">Günther</hi>, <hi rendition="#i">Studien</hi>, S. 25 ff.</note> Auch mit dieser Vorstellung war einer<lb/>
der wichtigsten Sätze der aristotelischen Physik durchbrochen.<lb/>
In jeder Hinsicht ist <hi rendition="#k">Cusanus</hi> der Vorkämpfer aller der Ideen,<lb/>
welche die Erneuerung der Wissenschaften zur Vollendung<lb/>
gebracht haben.</p><lb/>
            <p>Es bleibt nur noch übrig, eine Thätigkeit des <hi rendition="#k">Cusanus</hi> zu<lb/>
besprechen, welche nicht nur für die Gestaltung seiner Philoso-<lb/>
phie, sondern für die Entwickelung der Korpuskulartheorie insbe-<lb/>
sondere von großer Bedeutung ist, nämlich seine Beschäftigung<lb/>
mit der Mathematik; und zwar sind es die Untersuchung des<lb/>
Unendlichen und die Versuche, Grenzübergänge zu bewerk-<lb/>
stelligen, welche hier Erwähnung verdienen.</p><lb/>
            <p>Die Mathematik stand zu <hi rendition="#k">Cusanus</hi>&#x2019; Zeit noch ziemlich auf<lb/>
dem Standpunkte, wie sie von den Arabern überliefert war.<lb/>
Was dieselben in der Arithmetik geleistet hatten, war durch<lb/><hi rendition="#k">Leonardo Fibonacci</hi> aus Pisa in seinem <hi rendition="#i">Liber Abaci</hi> 1202 (ver-<lb/>
bessert 1228) dem Abendlande in strenger und systematischer<lb/>
Form bekannt gemacht worden. Ein Fortschritt wurde im<lb/>
14. Jahrhundert durch <hi rendition="#k">Nicole Oresme (Oresmius)</hi> (&#x2020; 1382) ge-<lb/>
macht, welcher in seinem <hi rendition="#i">Algorismus proportionum</hi><note place="foot" n="3">Herausg. v. M. <hi rendition="#k">Curtze</hi>, Berlin 1868. Vgl. M. <hi rendition="#k">Curtze</hi>, <hi rendition="#i">Zeitschr. f. Math.<lb/>
u. Phys.</hi> XIII. S. 66 ff.</note> die Lehre<lb/>
von der Rechnung mit Bruchpotenzen in fast moderner Be-<lb/>
zeichnungsart und zum Teil mit dem Gebrauch von Buchstaben<lb/>
als allgemeine Zahlen vortrug. Noch wichtiger aber ist für<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[281/0299] Cusanus: Erdbewegung. Mathematik. obwohl wir dieselbe nicht merken, weil uns die Vergleichung mit einem festen Punkte fehlt. 1 Die Bewegung der Erde dachte sich Cusanus, um die Schiefe der Ekliptik und die Präzession der Äquinoktien zu erklären, in einer doppelten Axendrehung bestehend, d. h. in einer Rotation um ihre Axe von Pol zu Pol, und diese Welt-Axe selbst drehbar um eine zweite, deren Pole im Äquator liegen; während er zugleich, um die tägliche Be- wegung der Sterne zu erhalten, dem Himmelsgewölbe eine Drehung in entgegengesetzter Richtung von der doppelten Geschwindigkeit gab. 2 Auch mit dieser Vorstellung war einer der wichtigsten Sätze der aristotelischen Physik durchbrochen. In jeder Hinsicht ist Cusanus der Vorkämpfer aller der Ideen, welche die Erneuerung der Wissenschaften zur Vollendung gebracht haben. Es bleibt nur noch übrig, eine Thätigkeit des Cusanus zu besprechen, welche nicht nur für die Gestaltung seiner Philoso- phie, sondern für die Entwickelung der Korpuskulartheorie insbe- sondere von großer Bedeutung ist, nämlich seine Beschäftigung mit der Mathematik; und zwar sind es die Untersuchung des Unendlichen und die Versuche, Grenzübergänge zu bewerk- stelligen, welche hier Erwähnung verdienen. Die Mathematik stand zu Cusanus’ Zeit noch ziemlich auf dem Standpunkte, wie sie von den Arabern überliefert war. Was dieselben in der Arithmetik geleistet hatten, war durch Leonardo Fibonacci aus Pisa in seinem Liber Abaci 1202 (ver- bessert 1228) dem Abendlande in strenger und systematischer Form bekannt gemacht worden. Ein Fortschritt wurde im 14. Jahrhundert durch Nicole Oresme (Oresmius) († 1382) ge- macht, welcher in seinem Algorismus proportionum 3 die Lehre von der Rechnung mit Bruchpotenzen in fast moderner Be- zeichnungsart und zum Teil mit dem Gebrauch von Buchstaben als allgemeine Zahlen vortrug. Noch wichtiger aber ist für 1 De docta ign. lib. II. c. 11 u. 12. p. 38 f. 2 Wie sich Cusanus die Bewegung der Erde gedacht hat, geht aus hand- schriftlichen Notizen hervor, die Clemens veröffentlicht hat in „Giordano Bruno und Nicolaus von Cusa,‟ Bonn 1847, S. 97—100. Vgl. hierüber Apelt, Ref. d. Sternkunde, S. 23 f., sowie S. Günther, Studien, S. 25 ff. 3 Herausg. v. M. Curtze, Berlin 1868. Vgl. M. Curtze, Zeitschr. f. Math. u. Phys. XIII. S. 66 ff.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/299
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/299>, abgerufen am 21.05.2024.