Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

Bild:
<< vorherige Seite
Einleitung: Geschichte der Korpuskulartheorie.

Anders liegt die Sache, sobald die Theorie der Materie
eine neue und ungeahnte Bedeutung dadurch erlangt, daß
die Interessen der Techniker ersetzt werden durch das Auf-
treten einer selbständigen Physik als Wissenschaft. Auch
hier, sobald neben der Naturphilosophie die Physik mit eigenem
Untersuchungsfelde und eigenen Methoden erscheint, gewinnt
sofort die korpuskulare Ansicht die Oberhand, und auch hier
wird sie nicht durch die Philosophen, sondern durch die Tech-
niker, insbesondere die Ärzte, übermittelt. Aber ihre ganze
Ausbreitung, Vervollkommnung und Begründung ist überall
von den Ansichten der Philosophen getragen oder gehemmt,
insbesondere mit der Überlieferung der antiken Atomistik so
eng verknüpft, daß wir ein ebenso weites als vielversprechendes
Feld für die historische Untersuchung offen finden. Und hier
ist die Stelle, an welcher man hoffen darf, in der geschicht-
lichen Ergründung bis an die Wurzeln zu gelangen und in der
Entwickelung der Korpuskulartheorie den Zusammenhang des
Fortschritts der Erkenntnis mit den Einflüssen der philosophi-
schen Weltanschauung und des physikalischen Interesses klar-
zulegen. Die Quellen verlieren sich nicht mehr im Dunkel der
Überlieferung, sondern die Meinungen der Zeitgenossen sind
im wesentlichen aus ihren gedruckten Werken zu entnehmen
Das Aufblühen der Empirie und die Entstehung der mathema-
tischen Naturwissenschaft ist ein Ereignis der Neuzeit, in dessen
Wirkungssphäre unsre eigene Geistesarbeit sich vollzieht;
die moderne Wissenschaft steht selbst unter der Macht der
Gedanken, welche die Korpuskulartheorie des siebzehnten Jahr-
hunderts schufen und ausbildeten. Die Geschichte dieser
Korpuskulartheorie bietet daher nicht nur das Interesse einer
gelehrten Ausgrabung, sondern sie enthüllt einen Hauptlebens-
nerven des modernen Denkens, die Lehre vom Wesen des
physischen Körpers. Dadurch rechtfertigt sich der Versuch,
zur Aufhellung jener Geschichte wenigstens einen Anfang dar-
zubieten.

Unsre Aufgabe wagen wir nunmehr folgendermaßen zu
skizzieren. Wir haben das historische Faktum der Entwicke-
lung der Korpuskulartheorie aus den Quellen zu konstatieren,
indem wir zu erkennen suchen, wie sich die vom Mittelalter
erhaltenen Reste antiken Wissens unter dem Einflusse des An-

Einleitung: Geschichte der Korpuskulartheorie.

Anders liegt die Sache, sobald die Theorie der Materie
eine neue und ungeahnte Bedeutung dadurch erlangt, daß
die Interessen der Techniker ersetzt werden durch das Auf-
treten einer selbständigen Physik als Wissenschaft. Auch
hier, sobald neben der Naturphilosophie die Physik mit eigenem
Untersuchungsfelde und eigenen Methoden erscheint, gewinnt
sofort die korpuskulare Ansicht die Oberhand, und auch hier
wird sie nicht durch die Philosophen, sondern durch die Tech-
niker, insbesondere die Ärzte, übermittelt. Aber ihre ganze
Ausbreitung, Vervollkommnung und Begründung ist überall
von den Ansichten der Philosophen getragen oder gehemmt,
insbesondere mit der Überlieferung der antiken Atomistik so
eng verknüpft, daß wir ein ebenso weites als vielversprechendes
Feld für die historische Untersuchung offen finden. Und hier
ist die Stelle, an welcher man hoffen darf, in der geschicht-
lichen Ergründung bis an die Wurzeln zu gelangen und in der
Entwickelung der Korpuskulartheorie den Zusammenhang des
Fortschritts der Erkenntnis mit den Einflüssen der philosophi-
schen Weltanschauung und des physikalischen Interesses klar-
zulegen. Die Quellen verlieren sich nicht mehr im Dunkel der
Überlieferung, sondern die Meinungen der Zeitgenossen sind
im wesentlichen aus ihren gedruckten Werken zu entnehmen
Das Aufblühen der Empirie und die Entstehung der mathema-
tischen Naturwissenschaft ist ein Ereignis der Neuzeit, in dessen
Wirkungssphäre unsre eigene Geistesarbeit sich vollzieht;
die moderne Wissenschaft steht selbst unter der Macht der
Gedanken, welche die Korpuskulartheorie des siebzehnten Jahr-
hunderts schufen und ausbildeten. Die Geschichte dieser
Korpuskulartheorie bietet daher nicht nur das Interesse einer
gelehrten Ausgrabung, sondern sie enthüllt einen Hauptlebens-
nerven des modernen Denkens, die Lehre vom Wesen des
physischen Körpers. Dadurch rechtfertigt sich der Versuch,
zur Aufhellung jener Geschichte wenigstens einen Anfang dar-
zubieten.

Unsre Aufgabe wagen wir nunmehr folgendermaßen zu
skizzieren. Wir haben das historische Faktum der Entwicke-
lung der Korpuskulartheorie aus den Quellen zu konstatieren,
indem wir zu erkennen suchen, wie sich die vom Mittelalter
erhaltenen Reste antiken Wissens unter dem Einflusse des An-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0025" n="7"/>
        <fw place="top" type="header">Einleitung: Geschichte der Korpuskulartheorie.</fw><lb/>
        <p>Anders liegt die Sache, sobald die Theorie der Materie<lb/>
eine neue und ungeahnte Bedeutung dadurch erlangt, daß<lb/>
die Interessen der Techniker ersetzt werden durch das Auf-<lb/>
treten einer selbständigen Physik als Wissenschaft. Auch<lb/>
hier, sobald neben der Naturphilosophie die Physik mit eigenem<lb/>
Untersuchungsfelde und eigenen Methoden erscheint, gewinnt<lb/>
sofort die korpuskulare Ansicht die Oberhand, und auch hier<lb/>
wird sie nicht durch die Philosophen, sondern durch die Tech-<lb/>
niker, insbesondere die Ärzte, übermittelt. Aber ihre ganze<lb/>
Ausbreitung, Vervollkommnung und Begründung ist überall<lb/>
von den Ansichten der Philosophen getragen oder gehemmt,<lb/>
insbesondere mit der Überlieferung der antiken Atomistik so<lb/>
eng verknüpft, daß wir ein ebenso weites als vielversprechendes<lb/>
Feld für die historische Untersuchung offen finden. Und hier<lb/>
ist die Stelle, an welcher man hoffen darf, in der geschicht-<lb/>
lichen Ergründung bis an die Wurzeln zu gelangen und in der<lb/>
Entwickelung der Korpuskulartheorie den Zusammenhang des<lb/>
Fortschritts der Erkenntnis mit den Einflüssen der philosophi-<lb/>
schen Weltanschauung und des physikalischen Interesses klar-<lb/>
zulegen. Die Quellen verlieren sich nicht mehr im Dunkel der<lb/>
Überlieferung, sondern die Meinungen der Zeitgenossen sind<lb/>
im wesentlichen aus ihren gedruckten Werken zu entnehmen<lb/>
Das Aufblühen der Empirie und die Entstehung der mathema-<lb/>
tischen Naturwissenschaft ist ein Ereignis der Neuzeit, in dessen<lb/>
Wirkungssphäre unsre eigene Geistesarbeit sich vollzieht;<lb/>
die moderne Wissenschaft steht selbst unter der Macht der<lb/>
Gedanken, welche die Korpuskulartheorie des siebzehnten Jahr-<lb/>
hunderts schufen und ausbildeten. Die Geschichte dieser<lb/>
Korpuskulartheorie bietet daher nicht nur das Interesse einer<lb/>
gelehrten Ausgrabung, sondern sie enthüllt einen Hauptlebens-<lb/>
nerven des modernen Denkens, die Lehre vom Wesen des<lb/>
physischen Körpers. Dadurch rechtfertigt sich der Versuch,<lb/>
zur Aufhellung jener Geschichte wenigstens einen Anfang dar-<lb/>
zubieten.</p><lb/>
        <p>Unsre Aufgabe wagen wir nunmehr folgendermaßen zu<lb/>
skizzieren. Wir haben das historische Faktum der Entwicke-<lb/>
lung der Korpuskulartheorie aus den Quellen zu konstatieren,<lb/>
indem wir zu erkennen suchen, wie sich die vom Mittelalter<lb/>
erhaltenen Reste antiken Wissens unter dem Einflusse des An-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[7/0025] Einleitung: Geschichte der Korpuskulartheorie. Anders liegt die Sache, sobald die Theorie der Materie eine neue und ungeahnte Bedeutung dadurch erlangt, daß die Interessen der Techniker ersetzt werden durch das Auf- treten einer selbständigen Physik als Wissenschaft. Auch hier, sobald neben der Naturphilosophie die Physik mit eigenem Untersuchungsfelde und eigenen Methoden erscheint, gewinnt sofort die korpuskulare Ansicht die Oberhand, und auch hier wird sie nicht durch die Philosophen, sondern durch die Tech- niker, insbesondere die Ärzte, übermittelt. Aber ihre ganze Ausbreitung, Vervollkommnung und Begründung ist überall von den Ansichten der Philosophen getragen oder gehemmt, insbesondere mit der Überlieferung der antiken Atomistik so eng verknüpft, daß wir ein ebenso weites als vielversprechendes Feld für die historische Untersuchung offen finden. Und hier ist die Stelle, an welcher man hoffen darf, in der geschicht- lichen Ergründung bis an die Wurzeln zu gelangen und in der Entwickelung der Korpuskulartheorie den Zusammenhang des Fortschritts der Erkenntnis mit den Einflüssen der philosophi- schen Weltanschauung und des physikalischen Interesses klar- zulegen. Die Quellen verlieren sich nicht mehr im Dunkel der Überlieferung, sondern die Meinungen der Zeitgenossen sind im wesentlichen aus ihren gedruckten Werken zu entnehmen Das Aufblühen der Empirie und die Entstehung der mathema- tischen Naturwissenschaft ist ein Ereignis der Neuzeit, in dessen Wirkungssphäre unsre eigene Geistesarbeit sich vollzieht; die moderne Wissenschaft steht selbst unter der Macht der Gedanken, welche die Korpuskulartheorie des siebzehnten Jahr- hunderts schufen und ausbildeten. Die Geschichte dieser Korpuskulartheorie bietet daher nicht nur das Interesse einer gelehrten Ausgrabung, sondern sie enthüllt einen Hauptlebens- nerven des modernen Denkens, die Lehre vom Wesen des physischen Körpers. Dadurch rechtfertigt sich der Versuch, zur Aufhellung jener Geschichte wenigstens einen Anfang dar- zubieten. Unsre Aufgabe wagen wir nunmehr folgendermaßen zu skizzieren. Wir haben das historische Faktum der Entwicke- lung der Korpuskulartheorie aus den Quellen zu konstatieren, indem wir zu erkennen suchen, wie sich die vom Mittelalter erhaltenen Reste antiken Wissens unter dem Einflusse des An-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/25
Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/25>, abgerufen am 23.04.2024.