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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Glauben und Wissen.
naturwissenschaftliche Erkenntnis der Welt sich mit den Hoff-
nungen des Glaubens in ein Verhältnis setzen. Auf kritischem
Standpunkte ist die objektive Natur der Ausdruck der Gesetz-
lichkeit des Verstandes, der religiöse Glaube der Ausdruck
des lebendigen Weltgefühls des einzelnen Ich, und beide Ge-
biete können nicht konkurrieren und kollidieren, weil sie dis-
parate und gleichberechtigte Objektivationsstufen des Bewußt-
seins sind, welche als solche nebeneinander bestehen. Für den
Dogmatismus müssen beide Realitäten, Gott, den wir glauben,
und die Welt, die wir erkennen, sich entweder miteinander
ins Einvernehmen setzen lassen, oder die eine muß der andren
sich unterordnen. Glauben und Wissen sind dann nicht da-
durch versöhnt, daß sie verschiedene Richtungen desselben Be-
wußtseins darstellen, sondern die Versöhnung muß äußerlich
in ihrem Stoffe gesucht werden. Entweder wird dann die
wissenschaftliche Erkenntnis, d. h. die Objektivierung der
Empfindung zur Natur, eingeschränkt durch die Rücksicht auf
autoritative Glaubenssätze, oder der Gottesbegriff wird den
veränderlichen Stufen der theoretischen Erkenntnis unterworfen,
umgestaltet, beseitigt.

Gilt es nun innerhalb des Dogmatismus im Interesse der
weltlichen Erkenntnis ein Gebiet für das Denken frei zu
machen, so muß Gott eine derartige Stellung zur Welt be-
kommen, daß innerhalb der Welt eine erkennbare Gesetz-
lichkeit übrig bleibt. Dies vermag der reine Aristotelismus
nur teilweise zu leisten. Der Einfluß der Materie einerseits,
die Zweckthätigkeit der substanziellen Formen andrerseits
lassen soviel Unbestimmtheit im einzelnen und soviel schöpfe-
risches Eingreifen im ganzen zu, daß gerade darum Aristoteles
der Kirche und dem Wunderglauben des Mittelalters eine
fundamentale Stütze wurde. Die Entwickelung der Natur-
erkenntnis als Wissenschaft aber forderte Gesetzlichkeit des
Geschehens bis in das Einzelne hinein, und zwar erkennbare
Gesetzlichkeit. Einer solchen vermochte der absolute Mono-
theismus entgegenzukommen, indem er den Schöpfer der Welt
so hoch über diese selbst hinaushebt, daß innerhalb derselben
Raum für den Streit der mannigfaltigsten Meinungen über
Beschaffenheit und Entwickelung des Kosmos bleibt. Je
erhabener der Begriff des einen Gottes gefaßt wird, desto

Laßwitz. 11

Glauben und Wissen.
naturwissenschaftliche Erkenntnis der Welt sich mit den Hoff-
nungen des Glaubens in ein Verhältnis setzen. Auf kritischem
Standpunkte ist die objektive Natur der Ausdruck der Gesetz-
lichkeit des Verstandes, der religiöse Glaube der Ausdruck
des lebendigen Weltgefühls des einzelnen Ich, und beide Ge-
biete können nicht konkurrieren und kollidieren, weil sie dis-
parate und gleichberechtigte Objektivationsstufen des Bewußt-
seins sind, welche als solche nebeneinander bestehen. Für den
Dogmatismus müssen beide Realitäten, Gott, den wir glauben,
und die Welt, die wir erkennen, sich entweder miteinander
ins Einvernehmen setzen lassen, oder die eine muß der andren
sich unterordnen. Glauben und Wissen sind dann nicht da-
durch versöhnt, daß sie verschiedene Richtungen desselben Be-
wußtseins darstellen, sondern die Versöhnung muß äußerlich
in ihrem Stoffe gesucht werden. Entweder wird dann die
wissenschaftliche Erkenntnis, d. h. die Objektivierung der
Empfindung zur Natur, eingeschränkt durch die Rücksicht auf
autoritative Glaubenssätze, oder der Gottesbegriff wird den
veränderlichen Stufen der theoretischen Erkenntnis unterworfen,
umgestaltet, beseitigt.

Gilt es nun innerhalb des Dogmatismus im Interesse der
weltlichen Erkenntnis ein Gebiet für das Denken frei zu
machen, so muß Gott eine derartige Stellung zur Welt be-
kommen, daß innerhalb der Welt eine erkennbare Gesetz-
lichkeit übrig bleibt. Dies vermag der reine Aristotelismus
nur teilweise zu leisten. Der Einfluß der Materie einerseits,
die Zweckthätigkeit der substanziellen Formen andrerseits
lassen soviel Unbestimmtheit im einzelnen und soviel schöpfe-
risches Eingreifen im ganzen zu, daß gerade darum Aristoteles
der Kirche und dem Wunderglauben des Mittelalters eine
fundamentale Stütze wurde. Die Entwickelung der Natur-
erkenntnis als Wissenschaft aber forderte Gesetzlichkeit des
Geschehens bis in das Einzelne hinein, und zwar erkennbare
Gesetzlichkeit. Einer solchen vermochte der absolute Mono-
theismus entgegenzukommen, indem er den Schöpfer der Welt
so hoch über diese selbst hinaushebt, daß innerhalb derselben
Raum für den Streit der mannigfaltigsten Meinungen über
Beschaffenheit und Entwickelung des Kosmos bleibt. Je
erhabener der Begriff des einen Gottes gefaßt wird, desto

Laßwitz. 11
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[161/0179] Glauben und Wissen. naturwissenschaftliche Erkenntnis der Welt sich mit den Hoff- nungen des Glaubens in ein Verhältnis setzen. Auf kritischem Standpunkte ist die objektive Natur der Ausdruck der Gesetz- lichkeit des Verstandes, der religiöse Glaube der Ausdruck des lebendigen Weltgefühls des einzelnen Ich, und beide Ge- biete können nicht konkurrieren und kollidieren, weil sie dis- parate und gleichberechtigte Objektivationsstufen des Bewußt- seins sind, welche als solche nebeneinander bestehen. Für den Dogmatismus müssen beide Realitäten, Gott, den wir glauben, und die Welt, die wir erkennen, sich entweder miteinander ins Einvernehmen setzen lassen, oder die eine muß der andren sich unterordnen. Glauben und Wissen sind dann nicht da- durch versöhnt, daß sie verschiedene Richtungen desselben Be- wußtseins darstellen, sondern die Versöhnung muß äußerlich in ihrem Stoffe gesucht werden. Entweder wird dann die wissenschaftliche Erkenntnis, d. h. die Objektivierung der Empfindung zur Natur, eingeschränkt durch die Rücksicht auf autoritative Glaubenssätze, oder der Gottesbegriff wird den veränderlichen Stufen der theoretischen Erkenntnis unterworfen, umgestaltet, beseitigt. Gilt es nun innerhalb des Dogmatismus im Interesse der weltlichen Erkenntnis ein Gebiet für das Denken frei zu machen, so muß Gott eine derartige Stellung zur Welt be- kommen, daß innerhalb der Welt eine erkennbare Gesetz- lichkeit übrig bleibt. Dies vermag der reine Aristotelismus nur teilweise zu leisten. Der Einfluß der Materie einerseits, die Zweckthätigkeit der substanziellen Formen andrerseits lassen soviel Unbestimmtheit im einzelnen und soviel schöpfe- risches Eingreifen im ganzen zu, daß gerade darum Aristoteles der Kirche und dem Wunderglauben des Mittelalters eine fundamentale Stütze wurde. Die Entwickelung der Natur- erkenntnis als Wissenschaft aber forderte Gesetzlichkeit des Geschehens bis in das Einzelne hinein, und zwar erkennbare Gesetzlichkeit. Einer solchen vermochte der absolute Mono- theismus entgegenzukommen, indem er den Schöpfer der Welt so hoch über diese selbst hinaushebt, daß innerhalb derselben Raum für den Streit der mannigfaltigsten Meinungen über Beschaffenheit und Entwickelung des Kosmos bleibt. Je erhabener der Begriff des einen Gottes gefaßt wird, desto Laßwitz. 11

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/179>, abgerufen am 27.11.2024.