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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Jüdische und arabische Richtung.
allgemeinen Begriffe als geistige Substanzen und selbständige
Realitäten gedacht, so entsteht ein Rückschlag in den Plato-
nismus, denkt man die Substanz als eine einzige, allumfassende,
so entsteht ein System mit pantheistischer Färbung. Beide
Fassungen gewähren die Möglichkeit, im Körperbegriff die-
jenigen Feststellungen zu machen, welche demselben Unab-
hängigkeit und Selbständigkeit in der Gestaltung der sinn-
lichen Welt gewähren und daher der Physik ein Gebiet der
Wirksamkeit vorbereiten, sobald das rein metaphysische und
theologische Interesse sich abschwächt. Denn jene geistigen
Substanzen oder die allgemeine Substanz müssen in der Ent-
wickelung zur Vielheit der Dinge auf feste, aus der Natur
des Denkens fließende Bestimmungen über das Wesen des
Körpers führen.

Beide Gegenströmungen gegen den reinen Aristotelismus,
die materialistische wie die pantheistische, finden wir im
Mittelalter wirksam; beide bringen der ursprünglichen Lehre
des Stagiriten in der scholastischen Auffassung derselben
fremde Elemente zu. Ihre Quellen sind in dem Charakter der-
jenigen Nationen zu suchen, durch deren Arbeit die peripate-
tische Philosophie dem Abendlande überliefert worden ist, in
dem strengen Monotheismus der Juden und Moslemen. Wo
die jüdische Weltauffassung zu selbständiger Philosophie vor-
schreitet, finden wir die pantheistische Neigung, so bei Ibn
Gabirol
, von welchem Duns Scotus seine Anregung empfing,
und so später bei Spinoza. Wo der Islam seinen Einfluß
geltend macht, zeigt sich ein materialistischer Zug; so im
Peripatetismus des Ibn Sina und besonders des Ibn Roschd.

So lange nicht die Erkenntnistheorie klargelegt hat, daß
religiöses Gefühl und theoretische Einsicht zwei verschiedene
Teilinhalte des allgemeinen Erlebnisses der Menschheit sind,
so daß kein wissenschaftliches Resultat das frei vom Verstandes-
gesetz waltende Gottesbewußtsein erschüttern, kein Bedürfnis
des Glaubens die Denkmittel der konstruierenden Theorie ver-
wirren kann, so lange die Unvergleichbarkeit der Werte noch
nicht bekannt war, welche religiöse Wahrheiten als erlebte und
theoretische als erkannte besitzen, so lange der Dogmatismus
die Realität Gottes und die Realität der Welt als durch die-
selben Denkmittel erkennbar betrachtete, so lange mußte die

Jüdische und arabische Richtung.
allgemeinen Begriffe als geistige Substanzen und selbständige
Realitäten gedacht, so entsteht ein Rückschlag in den Plato-
nismus, denkt man die Substanz als eine einzige, allumfassende,
so entsteht ein System mit pantheistischer Färbung. Beide
Fassungen gewähren die Möglichkeit, im Körperbegriff die-
jenigen Feststellungen zu machen, welche demselben Unab-
hängigkeit und Selbständigkeit in der Gestaltung der sinn-
lichen Welt gewähren und daher der Physik ein Gebiet der
Wirksamkeit vorbereiten, sobald das rein metaphysische und
theologische Interesse sich abschwächt. Denn jene geistigen
Substanzen oder die allgemeine Substanz müssen in der Ent-
wickelung zur Vielheit der Dinge auf feste, aus der Natur
des Denkens fließende Bestimmungen über das Wesen des
Körpers führen.

Beide Gegenströmungen gegen den reinen Aristotelismus,
die materialistische wie die pantheistische, finden wir im
Mittelalter wirksam; beide bringen der ursprünglichen Lehre
des Stagiriten in der scholastischen Auffassung derselben
fremde Elemente zu. Ihre Quellen sind in dem Charakter der-
jenigen Nationen zu suchen, durch deren Arbeit die peripate-
tische Philosophie dem Abendlande überliefert worden ist, in
dem strengen Monotheismus der Juden und Moslemen. Wo
die jüdische Weltauffassung zu selbständiger Philosophie vor-
schreitet, finden wir die pantheistische Neigung, so bei Ibn
Gabirol
, von welchem Duns Scotus seine Anregung empfing,
und so später bei Spinoza. Wo der Islam seinen Einfluß
geltend macht, zeigt sich ein materialistischer Zug; so im
Peripatetismus des Ibn Sina und besonders des Ibn Roschd.

So lange nicht die Erkenntnistheorie klargelegt hat, daß
religiöses Gefühl und theoretische Einsicht zwei verschiedene
Teilinhalte des allgemeinen Erlebnisses der Menschheit sind,
so daß kein wissenschaftliches Resultat das frei vom Verstandes-
gesetz waltende Gottesbewußtsein erschüttern, kein Bedürfnis
des Glaubens die Denkmittel der konstruierenden Theorie ver-
wirren kann, so lange die Unvergleichbarkeit der Werte noch
nicht bekannt war, welche religiöse Wahrheiten als erlebte und
theoretische als erkannte besitzen, so lange der Dogmatismus
die Realität Gottes und die Realität der Welt als durch die-
selben Denkmittel erkennbar betrachtete, so lange mußte die

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[160/0178] Jüdische und arabische Richtung. allgemeinen Begriffe als geistige Substanzen und selbständige Realitäten gedacht, so entsteht ein Rückschlag in den Plato- nismus, denkt man die Substanz als eine einzige, allumfassende, so entsteht ein System mit pantheistischer Färbung. Beide Fassungen gewähren die Möglichkeit, im Körperbegriff die- jenigen Feststellungen zu machen, welche demselben Unab- hängigkeit und Selbständigkeit in der Gestaltung der sinn- lichen Welt gewähren und daher der Physik ein Gebiet der Wirksamkeit vorbereiten, sobald das rein metaphysische und theologische Interesse sich abschwächt. Denn jene geistigen Substanzen oder die allgemeine Substanz müssen in der Ent- wickelung zur Vielheit der Dinge auf feste, aus der Natur des Denkens fließende Bestimmungen über das Wesen des Körpers führen. Beide Gegenströmungen gegen den reinen Aristotelismus, die materialistische wie die pantheistische, finden wir im Mittelalter wirksam; beide bringen der ursprünglichen Lehre des Stagiriten in der scholastischen Auffassung derselben fremde Elemente zu. Ihre Quellen sind in dem Charakter der- jenigen Nationen zu suchen, durch deren Arbeit die peripate- tische Philosophie dem Abendlande überliefert worden ist, in dem strengen Monotheismus der Juden und Moslemen. Wo die jüdische Weltauffassung zu selbständiger Philosophie vor- schreitet, finden wir die pantheistische Neigung, so bei Ibn Gabirol, von welchem Duns Scotus seine Anregung empfing, und so später bei Spinoza. Wo der Islam seinen Einfluß geltend macht, zeigt sich ein materialistischer Zug; so im Peripatetismus des Ibn Sina und besonders des Ibn Roschd. So lange nicht die Erkenntnistheorie klargelegt hat, daß religiöses Gefühl und theoretische Einsicht zwei verschiedene Teilinhalte des allgemeinen Erlebnisses der Menschheit sind, so daß kein wissenschaftliches Resultat das frei vom Verstandes- gesetz waltende Gottesbewußtsein erschüttern, kein Bedürfnis des Glaubens die Denkmittel der konstruierenden Theorie ver- wirren kann, so lange die Unvergleichbarkeit der Werte noch nicht bekannt war, welche religiöse Wahrheiten als erlebte und theoretische als erkannte besitzen, so lange der Dogmatismus die Realität Gottes und die Realität der Welt als durch die- selben Denkmittel erkennbar betrachtete, so lange mußte die

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/178>, abgerufen am 27.11.2024.