Die Entgegnungen auf die mathematische Atomistik lassen sich darauf zurückführen, daß, wenn Körper, Linien und Flächen aus Punkten bestehen sollen, entweder diese Punkte selbst wieder teilbar sein müßten, oder alle Größenverschieden- heit aufgehoben werden würde. Auf den Widerspruch, der in der Teilbarkeit des Atoms liegt, geht der Einwand, welchen Algazali im Makazid-al-Filasifa macht, indem er sagt:1 Die Teile an der Peripherie eines Rades durchlaufen in gleicher Zeit einen größeren Raum als die in der Nähe des Zentrums; wenn nun die Teile des Umfangs gerade nur den Raum eines Atoms durchlaufen, so müssen die in der Mitte einen kleineren Raum zurücklegen und der Raum eines Atoms würde also teilbar sein. Es ist dies offenbar nur ein andrer Ausdruck für die schon von Aristoteles gemachte Bemerkung, daß bei atomistischer Fassung des Raumes und der Zeit verschieden rasche Bewegungen eine Neuteilung des als unteilbar Gesetzten erfordern würden.2 Auch das unter dem Namen Rota Aristoteles bekannte Paradoxon3 gehört hierher.
In der Schule der Skeptiker wurde ein ähnlicher Gedanke gegen die Möglichkeit der geometrischen Figuren überhaupt gewendet, indem man auf den Widerspruch hinwies, der darin liegen soll, daß eine um den einen Endpunkt bewegte Gerade mit jedem ihrer Punkte einen Kreis beschreibe, diese konzen- trischen Kreise nun aber verschieden groß sein sollen, während doch jeder mit seinem Nachbarkreise zusammenfallen müsse, den er unmittelbar berührt.4
Die Mutakallimun selbst ließen sich nicht auf eine Wider- legung dieser Einwände durch eine Diskussion des Kontinuitäts- begriffs ein, sondern sie gaben den Widerspruch zwischen Denken und Sinnenschein zu, gründeten sie doch darauf ihre eigene Atomistik. Sie beriefen sich vielmehr zur Recht- fertigung der thatsächlichen Erfahrung nur auf die unzureichende Schärfe der Sinne, welche die Diskontinuität des Wirklichen
1 Nach Schmölders, a. a. O. p. 224. Vgl. auch More nevochim I, S. 382.
2Phys. VI, 2. p. 233b 18 ff.
3Mechanica, c. 24. p. 855a 28 ff. Vgl. hierzu den Abschnitt über Galilei im 4. Buch und m. Abhandl. über Galileis Theorie d. Mat., Vierteljahrsschr. f. w. Philos. 1888. XIII. S. 42.
4Sextus Empiricusadv. Math. l. III. § 66 ff. Ed. Fabricius p. 322.
Mutakallimun: Mathematische Einwände.
Die Entgegnungen auf die mathematische Atomistik lassen sich darauf zurückführen, daß, wenn Körper, Linien und Flächen aus Punkten bestehen sollen, entweder diese Punkte selbst wieder teilbar sein müßten, oder alle Größenverschieden- heit aufgehoben werden würde. Auf den Widerspruch, der in der Teilbarkeit des Atoms liegt, geht der Einwand, welchen Algazali im Makazid-al-Filasifa macht, indem er sagt:1 Die Teile an der Peripherie eines Rades durchlaufen in gleicher Zeit einen größeren Raum als die in der Nähe des Zentrums; wenn nun die Teile des Umfangs gerade nur den Raum eines Atoms durchlaufen, so müssen die in der Mitte einen kleineren Raum zurücklegen und der Raum eines Atoms würde also teilbar sein. Es ist dies offenbar nur ein andrer Ausdruck für die schon von Aristoteles gemachte Bemerkung, daß bei atomistischer Fassung des Raumes und der Zeit verschieden rasche Bewegungen eine Neuteilung des als unteilbar Gesetzten erfordern würden.2 Auch das unter dem Namen Rota Aristoteles bekannte Paradoxon3 gehört hierher.
In der Schule der Skeptiker wurde ein ähnlicher Gedanke gegen die Möglichkeit der geometrischen Figuren überhaupt gewendet, indem man auf den Widerspruch hinwies, der darin liegen soll, daß eine um den einen Endpunkt bewegte Gerade mit jedem ihrer Punkte einen Kreis beschreibe, diese konzen- trischen Kreise nun aber verschieden groß sein sollen, während doch jeder mit seinem Nachbarkreise zusammenfallen müsse, den er unmittelbar berührt.4
Die Mutakallimun selbst ließen sich nicht auf eine Wider- legung dieser Einwände durch eine Diskussion des Kontinuitäts- begriffs ein, sondern sie gaben den Widerspruch zwischen Denken und Sinnenschein zu, gründeten sie doch darauf ihre eigene Atomistik. Sie beriefen sich vielmehr zur Recht- fertigung der thatsächlichen Erfahrung nur auf die unzureichende Schärfe der Sinne, welche die Diskontinuität des Wirklichen
1 Nach Schmölders, a. a. O. p. 224. Vgl. auch More nevochim I, S. 382.
2Phys. VI, 2. p. 233b 18 ff.
3Mechanica, c. 24. p. 855a 28 ff. Vgl. hierzu den Abschnitt über Galilei im 4. Buch und m. Abhandl. über Galileis Theorie d. Mat., Vierteljahrsschr. f. w. Philos. 1888. XIII. S. 42.
4Sextus Empiricusadv. Math. l. III. § 66 ff. Ed. Fabricius p. 322.
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Mutakallimun: Mathematische Einwände.
Die Entgegnungen auf die mathematische Atomistik lassen
sich darauf zurückführen, daß, wenn Körper, Linien und
Flächen aus Punkten bestehen sollen, entweder diese Punkte
selbst wieder teilbar sein müßten, oder alle Größenverschieden-
heit aufgehoben werden würde. Auf den Widerspruch, der in
der Teilbarkeit des Atoms liegt, geht der Einwand, welchen
Algazali im Makazid-al-Filasifa macht, indem er sagt: 1 Die
Teile an der Peripherie eines Rades durchlaufen in gleicher
Zeit einen größeren Raum als die in der Nähe des Zentrums;
wenn nun die Teile des Umfangs gerade nur den Raum eines
Atoms durchlaufen, so müssen die in der Mitte einen kleineren
Raum zurücklegen und der Raum eines Atoms würde also
teilbar sein. Es ist dies offenbar nur ein andrer Ausdruck für
die schon von Aristoteles gemachte Bemerkung, daß bei
atomistischer Fassung des Raumes und der Zeit verschieden
rasche Bewegungen eine Neuteilung des als unteilbar Gesetzten
erfordern würden. 2 Auch das unter dem Namen Rota Aristoteles
bekannte Paradoxon 3 gehört hierher.
In der Schule der Skeptiker wurde ein ähnlicher Gedanke
gegen die Möglichkeit der geometrischen Figuren überhaupt
gewendet, indem man auf den Widerspruch hinwies, der darin
liegen soll, daß eine um den einen Endpunkt bewegte Gerade
mit jedem ihrer Punkte einen Kreis beschreibe, diese konzen-
trischen Kreise nun aber verschieden groß sein sollen, während
doch jeder mit seinem Nachbarkreise zusammenfallen müsse,
den er unmittelbar berührt. 4
Die Mutakallimun selbst ließen sich nicht auf eine Wider-
legung dieser Einwände durch eine Diskussion des Kontinuitäts-
begriffs ein, sondern sie gaben den Widerspruch zwischen
Denken und Sinnenschein zu, gründeten sie doch darauf ihre
eigene Atomistik. Sie beriefen sich vielmehr zur Recht-
fertigung der thatsächlichen Erfahrung nur auf die unzureichende
Schärfe der Sinne, welche die Diskontinuität des Wirklichen
1 Nach Schmölders, a. a. O. p. 224. Vgl. auch More nevochim I, S. 382.
2 Phys. VI, 2. p. 233b 18 ff.
3 Mechanica, c. 24. p. 855a 28 ff. Vgl. hierzu den Abschnitt über Galilei
im 4. Buch und m. Abhandl. über Galileis Theorie d. Mat., Vierteljahrsschr.
f. w. Philos. 1888. XIII. S. 42.
4 Sextus Empiricus adv. Math. l. III. § 66 ff. Ed. Fabricius p. 322.
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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/166>, abgerufen am 26.11.2024.
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