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Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890.

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Mutakallimun: Mathematische Einwände.
nicht wahrzunehmen vermag. Diesen erscheine eine Bewegung
wie z. B. die des fliegenden Pfeils, als eine stetige, während
sie thatsächlich aus sehr rasch abwechselnden Momenten der
Bewegung und der Ruhe bestehe. Auch wenn ihnen entgegnet
wird, daß sich z. B. bei der Drehung eines Mühlsteins die
Teile der Peripherie rascher bewegen als die am Zentrum, so
daß also die letzteren kleinere Ruhepausen haben müßten als
die ersteren, während doch der Mühlstein ein sehr fest
zusammenhängendes Ganze sei,1 entgegnen sie, daß sich die
Atome des Steines je nach Bedürfnis voneinander trennen und
nur unsere beschränkte Sinnlichkeit dies nicht wahrnehmen
könne. Auch dann noch muß die Mangelhaftigkeit der Sinne
zur Rechtfertigung herhalten, wenn den Mutakallimun ent-
gegnet wird, daß bei ihrer Auffassung jeder Unterschied
zwischen kommensurablen und inkommensurablen, rationalen
und irrationalen Linien fortfalle, weil durch die Atome alle
Linien in rationale Verhältnisse treten. Es wäre dann z. B.
nach ihnen die Seite des Quadrats gleich der Diagonale.
Denn in einem Quadrate von n2 Punkten enthalte die Diagonale
[Abbildung] Fig. 2.
ebensoviel Punkte als jede Seite, nämlich n. Überhaupt würde
unter solchen Umständen das ganze 10. Buch des Euklid über
die irrationalen Größen überflüssig. Infolgedessen sollen auch
einige Mutakallimun geradezu behauptet haben, daß das
Quadrat ein Ding sei, das gar nicht existiere; sie meinten
dies jedenfalls, wie die Skeptiker, in Bezug auf die Erkennbar-
keit, daß wir nämlich von einem Unterschied der Seiten und

1 More nevochim I. S. 387. Dies ist nur eine andre Wendung des S. 148
angeführten Einwandes von Algazali (s. Schmölders a. a. O.). Algazali führt
daselbst (nach Munk, More S. 383 A. 2) sechs Gründe an, von welchen der
bei Schmölders angegebene der sechste ist. Schmölders gibt außerdem den
ersten, welcher mit der Ausführung des Aristoteles gegen das Bestehen des
Kontinuums aus Punkten übereinkommt. Der vierte wird von Munk a. a. O.
gegeben und sogleich erwähnt werden.

Mutakallimun: Mathematische Einwände.
nicht wahrzunehmen vermag. Diesen erscheine eine Bewegung
wie z. B. die des fliegenden Pfeils, als eine stetige, während
sie thatsächlich aus sehr rasch abwechselnden Momenten der
Bewegung und der Ruhe bestehe. Auch wenn ihnen entgegnet
wird, daß sich z. B. bei der Drehung eines Mühlsteins die
Teile der Peripherie rascher bewegen als die am Zentrum, so
daß also die letzteren kleinere Ruhepausen haben müßten als
die ersteren, während doch der Mühlstein ein sehr fest
zusammenhängendes Ganze sei,1 entgegnen sie, daß sich die
Atome des Steines je nach Bedürfnis voneinander trennen und
nur unsere beschränkte Sinnlichkeit dies nicht wahrnehmen
könne. Auch dann noch muß die Mangelhaftigkeit der Sinne
zur Rechtfertigung herhalten, wenn den Mutakallimun ent-
gegnet wird, daß bei ihrer Auffassung jeder Unterschied
zwischen kommensurablen und inkommensurablen, rationalen
und irrationalen Linien fortfalle, weil durch die Atome alle
Linien in rationale Verhältnisse treten. Es wäre dann z. B.
nach ihnen die Seite des Quadrats gleich der Diagonale.
Denn in einem Quadrate von n2 Punkten enthalte die Diagonale
[Abbildung] Fig. 2.
ebensoviel Punkte als jede Seite, nämlich n. Überhaupt würde
unter solchen Umständen das ganze 10. Buch des Euklid über
die irrationalen Größen überflüssig. Infolgedessen sollen auch
einige Mutakallimun geradezu behauptet haben, daß das
Quadrat ein Ding sei, das gar nicht existiere; sie meinten
dies jedenfalls, wie die Skeptiker, in Bezug auf die Erkennbar-
keit, daß wir nämlich von einem Unterschied der Seiten und

1 More nevochim I. S. 387. Dies ist nur eine andre Wendung des S. 148
angeführten Einwandes von Algazali (s. Schmölders a. a. O.). Algazali führt
daselbst (nach Munk, More S. 383 A. 2) sechs Gründe an, von welchen der
bei Schmölders angegebene der sechste ist. Schmölders gibt außerdem den
ersten, welcher mit der Ausführung des Aristoteles gegen das Bestehen des
Kontinuums aus Punkten übereinkommt. Der vierte wird von Munk a. a. O.
gegeben und sogleich erwähnt werden.
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[149/0167] Mutakallimun: Mathematische Einwände. nicht wahrzunehmen vermag. Diesen erscheine eine Bewegung wie z. B. die des fliegenden Pfeils, als eine stetige, während sie thatsächlich aus sehr rasch abwechselnden Momenten der Bewegung und der Ruhe bestehe. Auch wenn ihnen entgegnet wird, daß sich z. B. bei der Drehung eines Mühlsteins die Teile der Peripherie rascher bewegen als die am Zentrum, so daß also die letzteren kleinere Ruhepausen haben müßten als die ersteren, während doch der Mühlstein ein sehr fest zusammenhängendes Ganze sei, 1 entgegnen sie, daß sich die Atome des Steines je nach Bedürfnis voneinander trennen und nur unsere beschränkte Sinnlichkeit dies nicht wahrnehmen könne. Auch dann noch muß die Mangelhaftigkeit der Sinne zur Rechtfertigung herhalten, wenn den Mutakallimun ent- gegnet wird, daß bei ihrer Auffassung jeder Unterschied zwischen kommensurablen und inkommensurablen, rationalen und irrationalen Linien fortfalle, weil durch die Atome alle Linien in rationale Verhältnisse treten. Es wäre dann z. B. nach ihnen die Seite des Quadrats gleich der Diagonale. Denn in einem Quadrate von n2 Punkten enthalte die Diagonale [Abbildung Fig. 2.] ebensoviel Punkte als jede Seite, nämlich n. Überhaupt würde unter solchen Umständen das ganze 10. Buch des Euklid über die irrationalen Größen überflüssig. Infolgedessen sollen auch einige Mutakallimun geradezu behauptet haben, daß das Quadrat ein Ding sei, das gar nicht existiere; sie meinten dies jedenfalls, wie die Skeptiker, in Bezug auf die Erkennbar- keit, daß wir nämlich von einem Unterschied der Seiten und 1 More nevochim I. S. 387. Dies ist nur eine andre Wendung des S. 148 angeführten Einwandes von Algazali (s. Schmölders a. a. O.). Algazali führt daselbst (nach Munk, More S. 383 A. 2) sechs Gründe an, von welchen der bei Schmölders angegebene der sechste ist. Schmölders gibt außerdem den ersten, welcher mit der Ausführung des Aristoteles gegen das Bestehen des Kontinuums aus Punkten übereinkommt. Der vierte wird von Munk a. a. O. gegeben und sogleich erwähnt werden.

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Zitationshilfe: Laßwitz, Kurd: Geschichte der Atomistik. Bd. 1. Hamburg, 1890, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lasswitz_atom01_1890/167>, abgerufen am 26.11.2024.