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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

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meiner Glückseligkeit gewesen; wie schmerz-
haft wäre mir der Anzug meiner gestreiften
Leinwand? Reinlichkeit, und wohlausge-
suchte Form meiner Kleider, lassen meine
ganze Welblichkeit zufrieden vom Spiegel
gehen; und was bleibt meiner höchsten
Einbildung noch zu wünschen übrig, da
ich mich in dieser geringen Kleidung mit
Liebe und Ehrfurcht betrachtet sehe, und
dies Gesinnungen allein dem Ausdruck
meines moralischen Charakters zu danken
habe?

Jch stehe früh auf, ich lege mich an
mein Fenster, und sehe, wie getreu die
Natur die Pflichten des ihr aufgelegten
ewigen Gesetzes der Nutzbarkeit in allen
Zeiten und Witterungen des Jahres er-
füllt. Der Winter nähert sich; die Blu-
men sind verschwunden, und auch bey
den Stralen der Sonne hat die Erde kein
glänzendes Ansehen mehr; aber einem
empfindsamen Herzen giebt auch das leere
Feld ein Bild des Vergnügens. Hier
wuchs Korn, denkt es, und hebt ein
dankbares Auge gen Himmel; der Gemüß-

garten,
II. Theil. F


meiner Gluͤckſeligkeit geweſen; wie ſchmerz-
haft waͤre mir der Anzug meiner geſtreiften
Leinwand? Reinlichkeit, und wohlausge-
ſuchte Form meiner Kleider, laſſen meine
ganze Welblichkeit zufrieden vom Spiegel
gehen; und was bleibt meiner hoͤchſten
Einbildung noch zu wuͤnſchen uͤbrig, da
ich mich in dieſer geringen Kleidung mit
Liebe und Ehrfurcht betrachtet ſehe, und
dieſ Geſinnungen allein dem Ausdruck
meines moraliſchen Charakters zu danken
habe?

Jch ſtehe fruͤh auf, ich lege mich an
mein Fenſter, und ſehe, wie getreu die
Natur die Pflichten des ihr aufgelegten
ewigen Geſetzes der Nutzbarkeit in allen
Zeiten und Witterungen des Jahres er-
fuͤllt. Der Winter naͤhert ſich; die Blu-
men ſind verſchwunden, und auch bey
den Stralen der Sonne hat die Erde kein
glaͤnzendes Anſehen mehr; aber einem
empfindſamen Herzen giebt auch das leere
Feld ein Bild des Vergnuͤgens. Hier
wuchs Korn, denkt es, und hebt ein
dankbares Auge gen Himmel; der Gemuͤß-

garten,
II. Theil. F
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[81/0087] meiner Gluͤckſeligkeit geweſen; wie ſchmerz- haft waͤre mir der Anzug meiner geſtreiften Leinwand? Reinlichkeit, und wohlausge- ſuchte Form meiner Kleider, laſſen meine ganze Welblichkeit zufrieden vom Spiegel gehen; und was bleibt meiner hoͤchſten Einbildung noch zu wuͤnſchen uͤbrig, da ich mich in dieſer geringen Kleidung mit Liebe und Ehrfurcht betrachtet ſehe, und dieſ Geſinnungen allein dem Ausdruck meines moraliſchen Charakters zu danken habe? Jch ſtehe fruͤh auf, ich lege mich an mein Fenſter, und ſehe, wie getreu die Natur die Pflichten des ihr aufgelegten ewigen Geſetzes der Nutzbarkeit in allen Zeiten und Witterungen des Jahres er- fuͤllt. Der Winter naͤhert ſich; die Blu- men ſind verſchwunden, und auch bey den Stralen der Sonne hat die Erde kein glaͤnzendes Anſehen mehr; aber einem empfindſamen Herzen giebt auch das leere Feld ein Bild des Vergnuͤgens. Hier wuchs Korn, denkt es, und hebt ein dankbares Auge gen Himmel; der Gemuͤß- garten, II. Theil. F

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Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 2. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte02_1771/87>, abgerufen am 21.11.2024.