gel der äußersten Vollkommenheit sehr leicht mit dem Gedanken eines fehlerhaf- ten Charakters oder Verstandes verbun- den wird, und also der Tadlerinn wohl noch den Ruhm eines scharfen Auges ge- beu kann, da hingegen die kleinsten Schmähungen über ein schönes Frauen- zimmer von jedem Zuhörer an die Rech- nung des Neides kommen? Edle und kluge Eigenliebe soll sich immer die Gunst der Huldgöttinnen wünschen, weil sie ihre Geschenke niemals zurücknehmen, und weder Zeit noch Zufälle uns derselben be- rauben können. Jch gestehe ganz auf- richtig, daß wenn ich in den schönen grie- chischen Zeiten geboren gewesen wäre, so hätte ich meine besten Opfer dem Tempel der Grazien geweiht. -- Aber, ich fehe meine Emilia, ich errathe, was sie denkt; denn indem sie dieses Schreiben liest, fragt der Ausdruck ihrer Physionomie: "War meine Freundin Sternheim so ganz "fehlerfrey, weil sie die von den andern "so dreuste bezeichnete? Neid mag sie nicht "gehabt haben, denn der Plan, dem sich
"ihre
gel der aͤußerſten Vollkommenheit ſehr leicht mit dem Gedanken eines fehlerhaf- ten Charakters oder Verſtandes verbun- den wird, und alſo der Tadlerinn wohl noch den Ruhm eines ſcharfen Auges ge- beu kann, da hingegen die kleinſten Schmaͤhungen uͤber ein ſchoͤnes Frauen- zimmer von jedem Zuhoͤrer an die Rech- nung des Neides kommen? Edle und kluge Eigenliebe ſoll ſich immer die Gunſt der Huldgoͤttinnen wuͤnſchen, weil ſie ihre Geſchenke niemals zuruͤcknehmen, und weder Zeit noch Zufaͤlle uns derſelben be- rauben koͤnnen. Jch geſtehe ganz auf- richtig, daß wenn ich in den ſchoͤnen grie- chiſchen Zeiten geboren geweſen waͤre, ſo haͤtte ich meine beſten Opfer dem Tempel der Grazien geweiht. — Aber, ich fehe meine Emilia, ich errathe, was ſie denkt; denn indem ſie dieſes Schreiben lieſt, fragt der Ausdruck ihrer Phyſionomie: „War meine Freundin Sternheim ſo ganz „fehlerfrey, weil ſie die von den andern „ſo dreuſte bezeichnete? Neid mag ſie nicht „gehabt haben, denn der Plan, dem ſich
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gel der aͤußerſten Vollkommenheit ſehr
leicht mit dem Gedanken eines fehlerhaf-
ten Charakters oder Verſtandes verbun-
den wird, und alſo der Tadlerinn wohl
noch den Ruhm eines ſcharfen Auges ge-
beu kann, da hingegen die kleinſten
Schmaͤhungen uͤber ein ſchoͤnes Frauen-
zimmer von jedem Zuhoͤrer an die Rech-
nung des Neides kommen? Edle und kluge
Eigenliebe ſoll ſich immer die Gunſt der
Huldgoͤttinnen wuͤnſchen, weil ſie ihre
Geſchenke niemals zuruͤcknehmen, und
weder Zeit noch Zufaͤlle uns derſelben be-
rauben koͤnnen. Jch geſtehe ganz auf-
richtig, daß wenn ich in den ſchoͤnen grie-
chiſchen Zeiten geboren geweſen waͤre, ſo
haͤtte ich meine beſten Opfer dem Tempel
der Grazien geweiht. — Aber, ich fehe
meine Emilia, ich errathe, was ſie denkt;
denn indem ſie dieſes Schreiben lieſt,
fragt der Ausdruck ihrer Phyſionomie:
„War meine Freundin Sternheim ſo ganz
„fehlerfrey, weil ſie die von den andern
„ſo dreuſte bezeichnete? Neid mag ſie nicht
„gehabt haben, denn der Plan, dem ſich
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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/297>, abgerufen am 22.11.2024.
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