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[La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771.

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den können; aber wie sehr, meine Emi-
lia, fand ich mich in meiner Hoffnung be-
trogen! Niemand dachte daran; die Ge-
sellschaft dieses feinen, gütigen Weisen
für den Geist zu benützen; man miß-
brauchte seine Geduld uud Gefälligkeit auf
eine unzählbare Art mit geringschätzigen
Gegenständen, auf welchen der Kleinig-
keitsgeist haftet, oder mit neu angekom-
menen französischen Broschüren, wobey
man ihm übel nahm, wenn er nicht darü-
ber in Entzückung gerieth, oder wenn er
auch andre Sachen nicht so sehr erhob,
als man es haben wollte. O! wie geizte
ich nach jeder Minute, die mir dieser
hochachtungswerthe Mann schenkte; wenn
er mit dem liebreichsten, meiner Wißbe-
gierde und Empfindsamkeit angemeßnen
Tone meine Fragen beantwortete, oder
mir vorzügliche Bücher nannte, und mich
lehrte, wie ich sie mit Nutzen lesen könne.
Mit edler Freymüthigkeit sagte er mir einst:
"Ob sich schon Fähigkeiten und Wissens-
"begierde in beynahe gleichem Grade in
"meiner Seele zeigten, so wäre ich doch

zu

den koͤnnen; aber wie ſehr, meine Emi-
lia, fand ich mich in meiner Hoffnung be-
trogen! Niemand dachte daran; die Ge-
ſellſchaft dieſes feinen, guͤtigen Weiſen
fuͤr den Geiſt zu benuͤtzen; man miß-
brauchte ſeine Geduld uud Gefaͤlligkeit auf
eine unzaͤhlbare Art mit geringſchaͤtzigen
Gegenſtaͤnden, auf welchen der Kleinig-
keitsgeiſt haftet, oder mit neu angekom-
menen franzoͤſiſchen Broſchuͤren, wobey
man ihm uͤbel nahm, wenn er nicht daruͤ-
ber in Entzuͤckung gerieth, oder wenn er
auch andre Sachen nicht ſo ſehr erhob,
als man es haben wollte. O! wie geizte
ich nach jeder Minute, die mir dieſer
hochachtungswerthe Mann ſchenkte; wenn
er mit dem liebreichſten, meiner Wißbe-
gierde und Empfindſamkeit angemeßnen
Tone meine Fragen beantwortete, oder
mir vorzuͤgliche Buͤcher nannte, und mich
lehrte, wie ich ſie mit Nutzen leſen koͤnne.
Mit edler Freymuͤthigkeit ſagte er mir einſt:
„Ob ſich ſchon Faͤhigkeiten und Wiſſens-
„begierde in beynahe gleichem Grade in
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[219/0245] den koͤnnen; aber wie ſehr, meine Emi- lia, fand ich mich in meiner Hoffnung be- trogen! Niemand dachte daran; die Ge- ſellſchaft dieſes feinen, guͤtigen Weiſen fuͤr den Geiſt zu benuͤtzen; man miß- brauchte ſeine Geduld uud Gefaͤlligkeit auf eine unzaͤhlbare Art mit geringſchaͤtzigen Gegenſtaͤnden, auf welchen der Kleinig- keitsgeiſt haftet, oder mit neu angekom- menen franzoͤſiſchen Broſchuͤren, wobey man ihm uͤbel nahm, wenn er nicht daruͤ- ber in Entzuͤckung gerieth, oder wenn er auch andre Sachen nicht ſo ſehr erhob, als man es haben wollte. O! wie geizte ich nach jeder Minute, die mir dieſer hochachtungswerthe Mann ſchenkte; wenn er mit dem liebreichſten, meiner Wißbe- gierde und Empfindſamkeit angemeßnen Tone meine Fragen beantwortete, oder mir vorzuͤgliche Buͤcher nannte, und mich lehrte, wie ich ſie mit Nutzen leſen koͤnne. Mit edler Freymuͤthigkeit ſagte er mir einſt: „Ob ſich ſchon Faͤhigkeiten und Wiſſens- „begierde in beynahe gleichem Grade in „meiner Seele zeigten, ſo waͤre ich doch zu

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Zitationshilfe: [La Roche, Sophie von]: Geschichte des Fräuleins von Sternheim. Bd. 1. Hrsg. v. Christoph Martin Wieland. Leipzig, 1771, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laroche_geschichte01_1771/245>, abgerufen am 04.05.2024.