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Lange, Joachim: Apostolisches Licht und Recht. Bd. 1. Halle, 1729.

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Erklärung des Briefs Pauli Cap. 2, v. 21.
[Spaltenumbruch] CHristum zum Zweck hat, nicht sich und der
Welt noch seinem und derselben Willen, son-
dern CHristo zu leben, und dessen Willen zu sei-
ner Regel, wie auch seinen Geist zu seinem Leiter
und Führer zu haben und zu behalten. Auf wel-
che Art denn die Liebe CHristi, durch welche er
sich in den Tod für uns dahin gegeben, eine sol-
che Gegen-Liebe in uns wircket und unterhält,
Vermöge welcher wir uns CHristo dergestalt zu
eigen ergeben, daß wir uns nicht wegern, für sei-
ne Ehre, ehe wir ihn verläugnen wolten, das Le-
ben zu lassen.
V. 21.

Jch werfe nicht weg die Gnade GOt-
tes
(die darinnen bestehet, daß er die Welt so
hoch geliebet, daß er ihr seinen Sohn zum Erlö-
ser und Heiland gesandt; und daß der Sohn
GOttes die Erlösung würcklich vollbracht, und
durch seinen Versöhnungs-Tod mir die Gerech-
tigkeit und Seligkeit erworben, und folglich mich
vom Fluche des Gesetzes erlöset und in die rechte
evangelische Freyheit gesetzet hat. Diese Gna-
de GOttes werfe ich so gar nicht weg, wie die
thun, welche die Gerechtigkeit aus dem Gesetze
suchen und auch andere darauf führen, daß ich
sie vielmehr als ein unschätzbares Kleinod wie
angenommen habe, also auch bewahre und be-
halte, auch zu aller Glaubens-Freudigkeit und
zur Heiligung des Wandels anzulegen suche.)
Denn so durch das Gesetz die Gerechtig-
keit
(damit man vor GOTT bestehet) kömmt,
so ist CHristus vergeblich gestorben.
(Nun
aber ist ja CHristus nicht vergeblich sondern zu
unserer Erlösung gestorben; wie ihr selbst im
Glauben erkannt und angenommen habet: da-
her denn folget, daß die Gerechtigkeit nicht aus
dem Gesetze komme, sondern durch CHristum
erworben sey.)

Anmerckungen.
1. Das Wegwerfen der Gnade geschie-
het auf eine gedoppelte Art. Erstlich damit,
wenn man sich ausser der Gnade GOttes selbst
helfen will zur Seligkeit, und sie für unnöthig
achtet,
oder derselben doch seine eigne Verdien-
ste, Würdigkeit und Gerechtigkeit zur Seite se-
tzet; wie noch heute zu Tage im Papstthum ge-
schiehet; ja auch wol in der evangelischen Kirche
selbst; zwar nicht nach derselben Bekäntniß, ie-
doch aber in der That selbst, indem man auf ei-
ne verborgene Art in grosser Eigen-Liebe seine ei-
gene Gerechtigkeit in diesen und jenen äusserli-
chen Ubungen, oder in falscher Einbildung einer
besondern Frömmigkeit aufrichtet, und zu kei-
nem rechten Gefühle der Armuth des Geistes
kömmt.
2. Hernach wird auch die Gnade damit
verworfen, wenn man sie auf Muthwillen
ziehet.
Denn ein solches fälschliches Annehmen,
da man sie mißbrauchet, ist in der That nichts
anders als eine würckliche Verwerfung. Denn
gleichwie Paulus ein solches nicht verwerfen
verstehet, so da mit einer danckbarlichen und ge-
treuen Anwendung verbunden war, und sich da-
mit erwiese: so ist leichtlich zu erachten, daß der
[Spaltenumbruch] Mißbrauch und die Versäumung der Gnade mit
zu derselben Verwerfung gehöre.
3. Daß aber die Socinianer damit, daß sie
die Erlösung und Satisfaction CHristi in dem
Sinne, darinnen sie Paulus nimmt und vor-
stellet, verläugnen, die Gnade GOttes, wie sie
sich in CHristo geoffenbaret, würcklich und auf
eine rechte grobe Art verwerfen, ist am Tage;
und hat man sich vor dem Aussatze dieser ihrer
Lehre so viel mehr zu hüten, so viel giftiger die
Quelle ist, daraus sie fliesset, nemlich die von ih-
nen verläugnete wahre Gottheit JEsu CHristi,
und das übertünchte Verderben unserer mensch-
lichen Natur.
4. Es ist aber noch eine andere und subtilere,
und gleichfalls gedoppelte Art der Verwer-
fung
oder Nicht-Annehmung der Gnade, nem-
lich die erste bey den ungeübten und vom Evan-
gelio nicht recht unterrichteten, sonst aber GOtt
ergebnen Seelen. Denn es giebt viele, die,
wenn sie von dem grossen und so gar gemeinen
Mißbrauche der Gnade hören, und aus aufrich-
tiger Treue gegen GOTT sich davor fürchten,
gar zu schüchtern und blöde sind, die Gnade
anzunehmen und sie sich recht zuzueignen, sondern
dafür halten, sie müsten erst zu diesem und jenem
Grad der Heiligung gekommen seyn, wenn ih-
nen die Gnade zu gute kommen solle. Auf welche
Art sie aber die Heiligung, oder auch die erste rech-
te Aenderung ihrer selbst, aus eignen Kräften su-
chen, und ohne Gnade zuwege bringen wollen;
daraus nichts wird. Andere gerathen aus dem
Mangel des empfindlichen Geschmacks der Gna-
de in die Anfechtung, als wären sie aus dem
Stande der Gnade gefallen;
zumal wenn
sie so mancher Mängel und Gebrechen bey der
Armuth ihres Geistes wahrgenommen: darüber
sie denn in einen grossen Kummer gesetzet wer-
den.
5. Es befindet sich aber, daß die Seelen
von diesen beyderley Arten in diesem Miß-Ver-
stande stehen, daß sie ihre grosse Unwürdigkeit
mit der Unfähigkeit confundiren: Und, weil
sie ihre Unwürdigkeit fühlen, von derselben auf
ihre Unfähigkeit einen Schluß machen. Da sie
hingegen erkennen solten, daß, je unwürdiger
sie sich selbst halten, je fähiger sie sind: sintemal
ja eben die Krancken des Artztes bedürfen, er
auch für sie gehöret. Wie denn deßwegen un-
ser Heiland solche Seelen zu sich locket, und
spricht: Kommet her, die ihr müheselig
und beladen seyd, ich will euch erquicken.

Matth. 11, 28. Und gleich im Anfange der
Berg-Predigt preiset er solche selig, wenn er sa-
get: Selig sind, die geistlich arm sind:
denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind,
die da Leide tragen: denn sie sollen getrö-
stet werden. Selig sind, die da hungert
und durstet nach der Gerechtigkeit: denn
sie sollen satt werden.
Matth. 5, 3. sqq.
Solte über das auch iemand damit angefochten
werden, daß er sich die ängstliche Gedancken
machte, als sey er von GOtt nicht erwehlet zum
ewigen Leben, sondern schon von Ewigkeit her
verstossen (welches Meinen gewiß auch nichts
anders ist, als die Gnade verwerfen, oder
sich
Erklaͤrung des Briefs Pauli Cap. 2, v. 21.
[Spaltenumbruch] CHriſtum zum Zweck hat, nicht ſich und der
Welt noch ſeinem und derſelben Willen, ſon-
dern CHriſto zu leben, und deſſen Willen zu ſei-
ner Regel, wie auch ſeinen Geiſt zu ſeinem Leiter
und Fuͤhrer zu haben und zu behalten. Auf wel-
che Art denn die Liebe CHriſti, durch welche er
ſich in den Tod fuͤr uns dahin gegeben, eine ſol-
che Gegen-Liebe in uns wircket und unterhaͤlt,
Vermoͤge welcher wir uns CHriſto dergeſtalt zu
eigen ergeben, daß wir uns nicht wegern, fuͤr ſei-
ne Ehre, ehe wir ihn verlaͤugnen wolten, das Le-
ben zu laſſen.
V. 21.

Jch werfe nicht weg die Gnade GOt-
tes
(die darinnen beſtehet, daß er die Welt ſo
hoch geliebet, daß er ihr ſeinen Sohn zum Erloͤ-
ſer und Heiland geſandt; und daß der Sohn
GOttes die Erloͤſung wuͤrcklich vollbracht, und
durch ſeinen Verſoͤhnungs-Tod mir die Gerech-
tigkeit und Seligkeit erworben, und folglich mich
vom Fluche des Geſetzes erloͤſet und in die rechte
evangeliſche Freyheit geſetzet hat. Dieſe Gna-
de GOttes werfe ich ſo gar nicht weg, wie die
thun, welche die Gerechtigkeit aus dem Geſetze
ſuchen und auch andere darauf fuͤhren, daß ich
ſie vielmehr als ein unſchaͤtzbares Kleinod wie
angenommen habe, alſo auch bewahre und be-
halte, auch zu aller Glaubens-Freudigkeit und
zur Heiligung des Wandels anzulegen ſuche.)
Denn ſo durch das Geſetz die Gerechtig-
keit
(damit man vor GOTT beſtehet) koͤmmt,
ſo iſt CHriſtus vergeblich geſtorben.
(Nun
aber iſt ja CHriſtus nicht vergeblich ſondern zu
unſerer Erloͤſung geſtorben; wie ihr ſelbſt im
Glauben erkannt und angenommen habet: da-
her denn folget, daß die Gerechtigkeit nicht aus
dem Geſetze komme, ſondern durch CHriſtum
erworben ſey.)

Anmerckungen.
1. Das Wegwerfen der Gnade geſchie-
het auf eine gedoppelte Art. Erſtlich damit,
wenn man ſich auſſer der Gnade GOttes ſelbſt
helfen will zur Seligkeit, und ſie fuͤr unnoͤthig
achtet,
oder derſelben doch ſeine eigne Verdien-
ſte, Wuͤrdigkeit und Gerechtigkeit zur Seite ſe-
tzet; wie noch heute zu Tage im Papſtthum ge-
ſchiehet; ja auch wol in der evangeliſchen Kirche
ſelbſt; zwar nicht nach derſelben Bekaͤntniß, ie-
doch aber in der That ſelbſt, indem man auf ei-
ne verborgene Art in groſſer Eigen-Liebe ſeine ei-
gene Gerechtigkeit in dieſen und jenen aͤuſſerli-
chen Ubungen, oder in falſcher Einbildung einer
beſondern Froͤmmigkeit aufrichtet, und zu kei-
nem rechten Gefuͤhle der Armuth des Geiſtes
koͤmmt.
2. Hernach wird auch die Gnade damit
verworfen, wenn man ſie auf Muthwillen
ziehet.
Denn ein ſolches faͤlſchliches Annehmen,
da man ſie mißbrauchet, iſt in der That nichts
anders als eine wuͤrckliche Verwerfung. Denn
gleichwie Paulus ein ſolches nicht verwerfen
verſtehet, ſo da mit einer danckbarlichen und ge-
treuen Anwendung verbunden war, und ſich da-
mit erwieſe: ſo iſt leichtlich zu erachten, daß der
[Spaltenumbruch] Mißbrauch und die Verſaͤumung der Gnade mit
zu derſelben Verwerfung gehoͤre.
3. Daß aber die Socinianer damit, daß ſie
die Erloͤſung und Satisfaction CHriſti in dem
Sinne, darinnen ſie Paulus nimmt und vor-
ſtellet, verlaͤugnen, die Gnade GOttes, wie ſie
ſich in CHriſto geoffenbaret, wuͤrcklich und auf
eine rechte grobe Art verwerfen, iſt am Tage;
und hat man ſich vor dem Auſſatze dieſer ihrer
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nen verlaͤugnete wahre Gottheit JEſu CHriſti,
und das uͤbertuͤnchte Verderben unſerer menſch-
lichen Natur.
4. Es iſt aber noch eine andere und ſubtilere,
und gleichfalls gedoppelte Art der Verwer-
fung
oder Nicht-Annehmung der Gnade, nem-
lich die erſte bey den ungeuͤbten und vom Evan-
gelio nicht recht unterrichteten, ſonſt aber GOtt
ergebnen Seelen. Denn es giebt viele, die,
wenn ſie von dem groſſen und ſo gar gemeinen
Mißbrauche der Gnade hoͤren, und aus aufrich-
tiger Treue gegen GOTT ſich davor fuͤrchten,
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nen die Gnade zu gute kommen ſolle. Auf welche
Art ſie aber die Heiligung, oder auch die erſte rech-
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chen, und ohne Gnade zuwege bringen wollen;
daraus nichts wird. Andere gerathen aus dem
Mangel des empfindlichen Geſchmacks der Gna-
de in die Anfechtung, als waͤren ſie aus dem
Stande der Gnade gefallen;
zumal wenn
ſie ſo mancher Maͤngel und Gebrechen bey der
Armuth ihres Geiſtes wahrgenommen: daruͤber
ſie denn in einen groſſen Kummer geſetzet wer-
den.
5. Es befindet ſich aber, daß die Seelen
von dieſen beyderley Arten in dieſem Miß-Ver-
ſtande ſtehen, daß ſie ihre groſſe Unwuͤrdigkeit
mit der Unfaͤhigkeit confundiren: Und, weil
ſie ihre Unwuͤrdigkeit fuͤhlen, von derſelben auf
ihre Unfaͤhigkeit einen Schluß machen. Da ſie
hingegen erkennen ſolten, daß, je unwuͤrdiger
ſie ſich ſelbſt halten, je faͤhiger ſie ſind: ſintemal
ja eben die Krancken des Artztes beduͤrfen, er
auch fuͤr ſie gehoͤret. Wie denn deßwegen un-
ſer Heiland ſolche Seelen zu ſich locket, und
ſpricht: Kommet her, die ihr muͤheſelig
und beladen ſeyd, ich will euch erquicken.

Matth. 11, 28. Und gleich im Anfange der
Berg-Predigt preiſet er ſolche ſelig, wenn er ſa-
get: Selig ſind, die geiſtlich arm ſind:
denn das Himmelreich iſt ihr. Selig ſind,
die da Leide tragen: denn ſie ſollen getroͤ-
ſtet werden. Selig ſind, die da hungert
und durſtet nach der Gerechtigkeit: denn
ſie ſollen ſatt werden.
Matth. 5, 3. ſqq.
Solte uͤber das auch iemand damit angefochten
werden, daß er ſich die aͤngſtliche Gedancken
machte, als ſey er von GOtt nicht erwehlet zum
ewigen Leben, ſondern ſchon von Ewigkeit her
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[504/0532] Erklaͤrung des Briefs Pauli Cap. 2, v. 21. CHriſtum zum Zweck hat, nicht ſich und der Welt noch ſeinem und derſelben Willen, ſon- dern CHriſto zu leben, und deſſen Willen zu ſei- ner Regel, wie auch ſeinen Geiſt zu ſeinem Leiter und Fuͤhrer zu haben und zu behalten. Auf wel- che Art denn die Liebe CHriſti, durch welche er ſich in den Tod fuͤr uns dahin gegeben, eine ſol- che Gegen-Liebe in uns wircket und unterhaͤlt, Vermoͤge welcher wir uns CHriſto dergeſtalt zu eigen ergeben, daß wir uns nicht wegern, fuͤr ſei- ne Ehre, ehe wir ihn verlaͤugnen wolten, das Le- ben zu laſſen. V. 21. Jch werfe nicht weg die Gnade GOt- tes (die darinnen beſtehet, daß er die Welt ſo hoch geliebet, daß er ihr ſeinen Sohn zum Erloͤ- ſer und Heiland geſandt; und daß der Sohn GOttes die Erloͤſung wuͤrcklich vollbracht, und durch ſeinen Verſoͤhnungs-Tod mir die Gerech- tigkeit und Seligkeit erworben, und folglich mich vom Fluche des Geſetzes erloͤſet und in die rechte evangeliſche Freyheit geſetzet hat. Dieſe Gna- de GOttes werfe ich ſo gar nicht weg, wie die thun, welche die Gerechtigkeit aus dem Geſetze ſuchen und auch andere darauf fuͤhren, daß ich ſie vielmehr als ein unſchaͤtzbares Kleinod wie angenommen habe, alſo auch bewahre und be- halte, auch zu aller Glaubens-Freudigkeit und zur Heiligung des Wandels anzulegen ſuche.) Denn ſo durch das Geſetz die Gerechtig- keit (damit man vor GOTT beſtehet) koͤmmt, ſo iſt CHriſtus vergeblich geſtorben. (Nun aber iſt ja CHriſtus nicht vergeblich ſondern zu unſerer Erloͤſung geſtorben; wie ihr ſelbſt im Glauben erkannt und angenommen habet: da- her denn folget, daß die Gerechtigkeit nicht aus dem Geſetze komme, ſondern durch CHriſtum erworben ſey.) Anmerckungen. 1. Das Wegwerfen der Gnade geſchie- het auf eine gedoppelte Art. Erſtlich damit, wenn man ſich auſſer der Gnade GOttes ſelbſt helfen will zur Seligkeit, und ſie fuͤr unnoͤthig achtet, oder derſelben doch ſeine eigne Verdien- ſte, Wuͤrdigkeit und Gerechtigkeit zur Seite ſe- tzet; wie noch heute zu Tage im Papſtthum ge- ſchiehet; ja auch wol in der evangeliſchen Kirche ſelbſt; zwar nicht nach derſelben Bekaͤntniß, ie- doch aber in der That ſelbſt, indem man auf ei- ne verborgene Art in groſſer Eigen-Liebe ſeine ei- gene Gerechtigkeit in dieſen und jenen aͤuſſerli- chen Ubungen, oder in falſcher Einbildung einer beſondern Froͤmmigkeit aufrichtet, und zu kei- nem rechten Gefuͤhle der Armuth des Geiſtes koͤmmt. 2. Hernach wird auch die Gnade damit verworfen, wenn man ſie auf Muthwillen ziehet. Denn ein ſolches faͤlſchliches Annehmen, da man ſie mißbrauchet, iſt in der That nichts anders als eine wuͤrckliche Verwerfung. Denn gleichwie Paulus ein ſolches nicht verwerfen verſtehet, ſo da mit einer danckbarlichen und ge- treuen Anwendung verbunden war, und ſich da- mit erwieſe: ſo iſt leichtlich zu erachten, daß der Mißbrauch und die Verſaͤumung der Gnade mit zu derſelben Verwerfung gehoͤre. 3. Daß aber die Socinianer damit, daß ſie die Erloͤſung und Satisfaction CHriſti in dem Sinne, darinnen ſie Paulus nimmt und vor- ſtellet, verlaͤugnen, die Gnade GOttes, wie ſie ſich in CHriſto geoffenbaret, wuͤrcklich und auf eine rechte grobe Art verwerfen, iſt am Tage; und hat man ſich vor dem Auſſatze dieſer ihrer Lehre ſo viel mehr zu huͤten, ſo viel giftiger die Quelle iſt, daraus ſie flieſſet, nemlich die von ih- nen verlaͤugnete wahre Gottheit JEſu CHriſti, und das uͤbertuͤnchte Verderben unſerer menſch- lichen Natur. 4. Es iſt aber noch eine andere und ſubtilere, und gleichfalls gedoppelte Art der Verwer- fung oder Nicht-Annehmung der Gnade, nem- lich die erſte bey den ungeuͤbten und vom Evan- gelio nicht recht unterrichteten, ſonſt aber GOtt ergebnen Seelen. Denn es giebt viele, die, wenn ſie von dem groſſen und ſo gar gemeinen Mißbrauche der Gnade hoͤren, und aus aufrich- tiger Treue gegen GOTT ſich davor fuͤrchten, gar zu ſchuͤchtern und bloͤde ſind, die Gnade anzunehmen und ſie ſich recht zuzueignen, ſondern dafuͤr halten, ſie muͤſten erſt zu dieſem und jenem Grad der Heiligung gekommen ſeyn, wenn ih- nen die Gnade zu gute kommen ſolle. Auf welche Art ſie aber die Heiligung, oder auch die erſte rech- te Aenderung ihrer ſelbſt, aus eignen Kraͤften ſu- chen, und ohne Gnade zuwege bringen wollen; daraus nichts wird. Andere gerathen aus dem Mangel des empfindlichen Geſchmacks der Gna- de in die Anfechtung, als waͤren ſie aus dem Stande der Gnade gefallen; zumal wenn ſie ſo mancher Maͤngel und Gebrechen bey der Armuth ihres Geiſtes wahrgenommen: daruͤber ſie denn in einen groſſen Kummer geſetzet wer- den. 5. Es befindet ſich aber, daß die Seelen von dieſen beyderley Arten in dieſem Miß-Ver- ſtande ſtehen, daß ſie ihre groſſe Unwuͤrdigkeit mit der Unfaͤhigkeit confundiren: Und, weil ſie ihre Unwuͤrdigkeit fuͤhlen, von derſelben auf ihre Unfaͤhigkeit einen Schluß machen. Da ſie hingegen erkennen ſolten, daß, je unwuͤrdiger ſie ſich ſelbſt halten, je faͤhiger ſie ſind: ſintemal ja eben die Krancken des Artztes beduͤrfen, er auch fuͤr ſie gehoͤret. Wie denn deßwegen un- ſer Heiland ſolche Seelen zu ſich locket, und ſpricht: Kommet her, die ihr muͤheſelig und beladen ſeyd, ich will euch erquicken. Matth. 11, 28. Und gleich im Anfange der Berg-Predigt preiſet er ſolche ſelig, wenn er ſa- get: Selig ſind, die geiſtlich arm ſind: denn das Himmelreich iſt ihr. Selig ſind, die da Leide tragen: denn ſie ſollen getroͤ- ſtet werden. Selig ſind, die da hungert und durſtet nach der Gerechtigkeit: denn ſie ſollen ſatt werden. Matth. 5, 3. ſqq. Solte uͤber das auch iemand damit angefochten werden, daß er ſich die aͤngſtliche Gedancken machte, als ſey er von GOtt nicht erwehlet zum ewigen Leben, ſondern ſchon von Ewigkeit her verſtoſſen (welches Meinen gewiß auch nichts anders iſt, als die Gnade verwerfen, oder ſich

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Zitationshilfe: Lange, Joachim: Apostolisches Licht und Recht. Bd. 1. Halle, 1729, S. 504. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lange_licht01_1729/532>, abgerufen am 24.11.2024.