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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von der Zeichnung des Scheins.

§. 283. Die Aussicht in die Zukunft macht ebenfalls ein
Theil der transcendenten Perspective aus, und ist desto er-
heblicher, weil die Beweggründe für den Willen, wenn man
die reinen und edlen Triebe der Dankbarkeit ausnimmt,
durchaus von dem Zukünftigen hergenommen sind. Was
zur Bestimmung und Voraussehen der künftigen Umstände
und Veränderungen erfordert werde, haben wir bereits in
vorhergehendem Hauptstücke (§. 164.) angezeigt. Die per-
spectivische Vorzeichnung des Zukünftigen setzt die Gewiß-
heit desselben voraus, und gemeiniglich gebraucht man sie,
wenn man sich oder andere zu Entschlüssen bereden will, de-
ren Ausführung eine Reihe von Folgen nach sich zieht, die
etwas Angenehmes, Anlockendes, Vortheilhaftes etc. an sich
haben. Das Allgemeine dabey aber, das sich nicht nach ein-
zelnen Umständen richtet, sondern auf das Leben überhaupt
geht, besteht in jeden Beweggründen und Vorstellungen,
wodurch die Gemüthsruhe (§. 146.) versichert, und erwie-
sen wird, daß die Zufriedenheit und die daherrührende
Stille und Glückseeligkeit nicht in äußern Umständen, son-
dern in der Seele ihren Sitz habe. Ein Stoff, der Dichter
schon oft beschäfftigt hat, und noch mehr beschäfftigen kann,
zumal wenn diese Zufriedenheit nicht mit einer stoischen Un-
empfindlichkeit und Gleichgültigkeit vermengt werden soll
(§. 141. 278.). Uebrigens giebt die mit Hoffnung und Be-
sorgniß vermengte Aussicht in die Zukunft dem Dichter in
dramatischen Stücken rührende Scenen an die Hand, es sey
daß der Leser den Ausgang voraus wisse, und ihm folglich
das Gemälde nur wegen eigener Schönheit gefalle, oder daß
er selbst noch in der Ungewißheit des Ausganges gelassen
werde, und indem er sich für die redende Person interessirt,
gleichsam Trost und Besorgniß mit derselben theile.

§. 284. Sofern die Musik dienen kann, Affecten zu erre-
gen, oder sie auszudrücken, oder auch nur die Poesie zu bele-
ben, läßt sie sich ebenfalls hieher rechnen, wiewohl es über-
haupt schwer zu bestimmen ist, wieferne die Musik Gedan-
ken und Empfindungen bezeichnet, oder statt einer Spra-
che dient. Die Redekunst, und mehr noch die Poesie hat in
dem Schwunge der Perioden und Abwechslung des Syl-
benmaaßes etwas Musikalisches, oder eine Harmonie, die
dem Ohr gefällt, und den Vortrag einnehmender macht.
Aus gleichem Grunde mag auch der Gesang viel dazu

bey-
Lamb. Organon II B. E e
Von der Zeichnung des Scheins.

§. 283. Die Ausſicht in die Zukunft macht ebenfalls ein
Theil der tranſcendenten Perſpective aus, und iſt deſto er-
heblicher, weil die Beweggruͤnde fuͤr den Willen, wenn man
die reinen und edlen Triebe der Dankbarkeit ausnimmt,
durchaus von dem Zukuͤnftigen hergenommen ſind. Was
zur Beſtimmung und Vorausſehen der kuͤnftigen Umſtaͤnde
und Veraͤnderungen erfordert werde, haben wir bereits in
vorhergehendem Hauptſtuͤcke (§. 164.) angezeigt. Die per-
ſpectiviſche Vorzeichnung des Zukuͤnftigen ſetzt die Gewiß-
heit deſſelben voraus, und gemeiniglich gebraucht man ſie,
wenn man ſich oder andere zu Entſchluͤſſen bereden will, de-
ren Ausfuͤhrung eine Reihe von Folgen nach ſich zieht, die
etwas Angenehmes, Anlockendes, Vortheilhaftes ꝛc. an ſich
haben. Das Allgemeine dabey aber, das ſich nicht nach ein-
zelnen Umſtaͤnden richtet, ſondern auf das Leben uͤberhaupt
geht, beſteht in jeden Beweggruͤnden und Vorſtellungen,
wodurch die Gemuͤthsruhe (§. 146.) verſichert, und erwie-
ſen wird, daß die Zufriedenheit und die daherruͤhrende
Stille und Gluͤckſeeligkeit nicht in aͤußern Umſtaͤnden, ſon-
dern in der Seele ihren Sitz habe. Ein Stoff, der Dichter
ſchon oft beſchaͤfftigt hat, und noch mehr beſchaͤfftigen kann,
zumal wenn dieſe Zufriedenheit nicht mit einer ſtoiſchen Un-
empfindlichkeit und Gleichguͤltigkeit vermengt werden ſoll
(§. 141. 278.). Uebrigens giebt die mit Hoffnung und Be-
ſorgniß vermengte Ausſicht in die Zukunft dem Dichter in
dramatiſchen Stuͤcken ruͤhrende Scenen an die Hand, es ſey
daß der Leſer den Ausgang voraus wiſſe, und ihm folglich
das Gemaͤlde nur wegen eigener Schoͤnheit gefalle, oder daß
er ſelbſt noch in der Ungewißheit des Ausganges gelaſſen
werde, und indem er ſich fuͤr die redende Perſon intereſſirt,
gleichſam Troſt und Beſorgniß mit derſelben theile.

§. 284. Sofern die Muſik dienen kann, Affecten zu erre-
gen, oder ſie auszudruͤcken, oder auch nur die Poeſie zu bele-
ben, laͤßt ſie ſich ebenfalls hieher rechnen, wiewohl es uͤber-
haupt ſchwer zu beſtimmen iſt, wieferne die Muſik Gedan-
ken und Empfindungen bezeichnet, oder ſtatt einer Spra-
che dient. Die Redekunſt, und mehr noch die Poeſie hat in
dem Schwunge der Perioden und Abwechslung des Syl-
benmaaßes etwas Muſikaliſches, oder eine Harmonie, die
dem Ohr gefaͤllt, und den Vortrag einnehmender macht.
Aus gleichem Grunde mag auch der Geſang viel dazu

bey-
Lamb. Organon II B. E e
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[433/0439] Von der Zeichnung des Scheins. §. 283. Die Ausſicht in die Zukunft macht ebenfalls ein Theil der tranſcendenten Perſpective aus, und iſt deſto er- heblicher, weil die Beweggruͤnde fuͤr den Willen, wenn man die reinen und edlen Triebe der Dankbarkeit ausnimmt, durchaus von dem Zukuͤnftigen hergenommen ſind. Was zur Beſtimmung und Vorausſehen der kuͤnftigen Umſtaͤnde und Veraͤnderungen erfordert werde, haben wir bereits in vorhergehendem Hauptſtuͤcke (§. 164.) angezeigt. Die per- ſpectiviſche Vorzeichnung des Zukuͤnftigen ſetzt die Gewiß- heit deſſelben voraus, und gemeiniglich gebraucht man ſie, wenn man ſich oder andere zu Entſchluͤſſen bereden will, de- ren Ausfuͤhrung eine Reihe von Folgen nach ſich zieht, die etwas Angenehmes, Anlockendes, Vortheilhaftes ꝛc. an ſich haben. Das Allgemeine dabey aber, das ſich nicht nach ein- zelnen Umſtaͤnden richtet, ſondern auf das Leben uͤberhaupt geht, beſteht in jeden Beweggruͤnden und Vorſtellungen, wodurch die Gemuͤthsruhe (§. 146.) verſichert, und erwie- ſen wird, daß die Zufriedenheit und die daherruͤhrende Stille und Gluͤckſeeligkeit nicht in aͤußern Umſtaͤnden, ſon- dern in der Seele ihren Sitz habe. Ein Stoff, der Dichter ſchon oft beſchaͤfftigt hat, und noch mehr beſchaͤfftigen kann, zumal wenn dieſe Zufriedenheit nicht mit einer ſtoiſchen Un- empfindlichkeit und Gleichguͤltigkeit vermengt werden ſoll (§. 141. 278.). Uebrigens giebt die mit Hoffnung und Be- ſorgniß vermengte Ausſicht in die Zukunft dem Dichter in dramatiſchen Stuͤcken ruͤhrende Scenen an die Hand, es ſey daß der Leſer den Ausgang voraus wiſſe, und ihm folglich das Gemaͤlde nur wegen eigener Schoͤnheit gefalle, oder daß er ſelbſt noch in der Ungewißheit des Ausganges gelaſſen werde, und indem er ſich fuͤr die redende Perſon intereſſirt, gleichſam Troſt und Beſorgniß mit derſelben theile. §. 284. Sofern die Muſik dienen kann, Affecten zu erre- gen, oder ſie auszudruͤcken, oder auch nur die Poeſie zu bele- ben, laͤßt ſie ſich ebenfalls hieher rechnen, wiewohl es uͤber- haupt ſchwer zu beſtimmen iſt, wieferne die Muſik Gedan- ken und Empfindungen bezeichnet, oder ſtatt einer Spra- che dient. Die Redekunſt, und mehr noch die Poeſie hat in dem Schwunge der Perioden und Abwechslung des Syl- benmaaßes etwas Muſikaliſches, oder eine Harmonie, die dem Ohr gefaͤllt, und den Vortrag einnehmender macht. Aus gleichem Grunde mag auch der Geſang viel dazu bey- Lamb. Organon II B. E e

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/439>, abgerufen am 22.11.2024.