Leser eine Mannigfaltigkeit und Verwicklung, die seine Aufmerksamkeit in allewege beschäfftigt.
§. 281. Der Dichter kann sich, ohne seinen Enthu- siasmus zu schwächen, und in dem Gedichte matter zu werden, nicht so genau nach der Gedenkensart der Leser richten, es sey denn, daß sein Enthusiasmus durch diese mit veranlaßt werde. Sein Thun ist, das Gemüth des Lesers wie ein Strom mit fortzureißen. Hingegen ist der Redner ungleich mehr daran gebunden, seinen Vor- trag auf die Gedenkensart der Zuhörer zu gründen, und diese auch nur in so ferne zu ändern, als er seinen Vor- trag nicht darauf gründen kann. Dieses macht aller- dings, daß er sich den Gesichtspunkt vorstellen muß, aus welchem seine Zuhörer den Vortrag ansehen wür- den, wenn er ihn schlechthin sagte, damit er die densel- ben noch unbekannte Seiten und Verhältnisse der Sache aufdecken, und sie so vorzeigen könne, daß sie in dem Gemüthe der Zuhörer den behörigen Eindruck machen.
§. 282. Dieses kömmt nun selbst im gemeinen Le- ben, so fern man die Menschen nehmen muß, wie sie sind, sowohl in Absicht auf die Reden, als auf die Ent- schlüsse und Handlungen, ebenfalls vor. Je genauer man den Gesichtspunkt kennt, aus welchem andere sich die Sachen vorstellen, desto leichter ist es auch, ihre Ge- danken, Entschlüsse und Handlungen gleichsam voraus zu bestimmen, und zu finden, wieferne sie hinderlich oder beförderlich seyn werden, wenn man ihnen seine Absich- ten entdeckt, oder ihnen auch nur einzelne Stücke davon sehen läßt. Wie man solche Kenntniß der Gesichts- punkte anderer Menschen gebrauchen könne, auch ihnen hinwiederum nützlich zu seyn, haben wir bereits oben (§. 271.) angezeigt, und führen es hier nur an, weil beydes mit einander verbunden seyn solle.
§. 283.
VI. Hauptſtuͤck.
Leſer eine Mannigfaltigkeit und Verwicklung, die ſeine Aufmerkſamkeit in allewege beſchaͤfftigt.
§. 281. Der Dichter kann ſich, ohne ſeinen Enthu- ſiaſmus zu ſchwaͤchen, und in dem Gedichte matter zu werden, nicht ſo genau nach der Gedenkensart der Leſer richten, es ſey denn, daß ſein Enthuſiaſmus durch dieſe mit veranlaßt werde. Sein Thun iſt, das Gemuͤth des Leſers wie ein Strom mit fortzureißen. Hingegen iſt der Redner ungleich mehr daran gebunden, ſeinen Vor- trag auf die Gedenkensart der Zuhoͤrer zu gruͤnden, und dieſe auch nur in ſo ferne zu aͤndern, als er ſeinen Vor- trag nicht darauf gruͤnden kann. Dieſes macht aller- dings, daß er ſich den Geſichtspunkt vorſtellen muß, aus welchem ſeine Zuhoͤrer den Vortrag anſehen wuͤr- den, wenn er ihn ſchlechthin ſagte, damit er die denſel- ben noch unbekannte Seiten und Verhaͤltniſſe der Sache aufdecken, und ſie ſo vorzeigen koͤnne, daß ſie in dem Gemuͤthe der Zuhoͤrer den behoͤrigen Eindruck machen.
§. 282. Dieſes koͤmmt nun ſelbſt im gemeinen Le- ben, ſo fern man die Menſchen nehmen muß, wie ſie ſind, ſowohl in Abſicht auf die Reden, als auf die Ent- ſchluͤſſe und Handlungen, ebenfalls vor. Je genauer man den Geſichtspunkt kennt, aus welchem andere ſich die Sachen vorſtellen, deſto leichter iſt es auch, ihre Ge- danken, Entſchluͤſſe und Handlungen gleichſam voraus zu beſtimmen, und zu finden, wieferne ſie hinderlich oder befoͤrderlich ſeyn werden, wenn man ihnen ſeine Abſich- ten entdeckt, oder ihnen auch nur einzelne Stuͤcke davon ſehen laͤßt. Wie man ſolche Kenntniß der Geſichts- punkte anderer Menſchen gebrauchen koͤnne, auch ihnen hinwiederum nuͤtzlich zu ſeyn, haben wir bereits oben (§. 271.) angezeigt, und fuͤhren es hier nur an, weil beydes mit einander verbunden ſeyn ſolle.
§. 283.
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§. 281. Der Dichter kann ſich, ohne ſeinen Enthu-
ſiaſmus zu ſchwaͤchen, und in dem Gedichte matter zu
werden, nicht ſo genau nach der Gedenkensart der Leſer
richten, es ſey denn, daß ſein Enthuſiaſmus durch dieſe
mit veranlaßt werde. Sein Thun iſt, das Gemuͤth des
Leſers wie ein Strom mit fortzureißen. Hingegen iſt
der Redner ungleich mehr daran gebunden, ſeinen Vor-
trag auf die Gedenkensart der Zuhoͤrer zu gruͤnden, und
dieſe auch nur in ſo ferne zu aͤndern, als er ſeinen Vor-
trag nicht darauf gruͤnden kann. Dieſes macht aller-
dings, daß er ſich den Geſichtspunkt vorſtellen muß,
aus welchem ſeine Zuhoͤrer den Vortrag anſehen wuͤr-
den, wenn er ihn ſchlechthin ſagte, damit er die denſel-
ben noch unbekannte Seiten und Verhaͤltniſſe der Sache
aufdecken, und ſie ſo vorzeigen koͤnne, daß ſie in dem
Gemuͤthe der Zuhoͤrer den behoͤrigen Eindruck machen.
§. 282. Dieſes koͤmmt nun ſelbſt im gemeinen Le-
ben, ſo fern man die Menſchen nehmen muß, wie ſie
ſind, ſowohl in Abſicht auf die Reden, als auf die Ent-
ſchluͤſſe und Handlungen, ebenfalls vor. Je genauer
man den Geſichtspunkt kennt, aus welchem andere ſich
die Sachen vorſtellen, deſto leichter iſt es auch, ihre Ge-
danken, Entſchluͤſſe und Handlungen gleichſam voraus
zu beſtimmen, und zu finden, wieferne ſie hinderlich oder
befoͤrderlich ſeyn werden, wenn man ihnen ſeine Abſich-
ten entdeckt, oder ihnen auch nur einzelne Stuͤcke davon
ſehen laͤßt. Wie man ſolche Kenntniß der Geſichts-
punkte anderer Menſchen gebrauchen koͤnne, auch ihnen
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 432. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/438>, abgerufen am 22.11.2024.
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