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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764.

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Von dem moralischen Schein.
Rechnung machen, und auch unterdrückte Affecten wir-
ken öfters gleichsam auf die Gedanken so zurücke, daß
sie sich vielmehr zu einem System als zu einem andern
bequemen. Das Widrige und Angenehme mischt sich
auch ohne heftigern Sturm der Affecten auf eine feine-
re und unvermerktere Art in die Gedanken mit ein, und
übereilt öfters das Urtheil, so wir fällen, wenn es gleich
noch mehrerer Prüfung bedürfte. Die Vorstellung,
daß die Wahrheit immer Wahrheit bleibe,
wir mögen sie gerne oder ungern haben,
muß
lebhaft bey uns eingeprägt seyn, und uns bey Untersu-
chung der Dinge beständig im Sinne schweben, wenn
wir Uebereilung vermeiden, Schritt für Schritt gehen,
und uns jedesmal mit dem, was wir gewiß haben, be-
gnügen, und das noch nicht durchaus Erwiesene für nicht
mehr als es ist, ansehen und ausgeben wollen. Wir
können hier beyläufig anmerken, daß man sich mit einer
solchen Bescheidenheit bey Leuten, die auf ihre Fragen
schlechthin ja oder nein haben wollen, das Ansehen ei-
nes Grüblers oder auch eines Zweiflers zuziehen kann.
Die meisten sind so sehr daran gewöhnt, alles individual
und durchaus bestimmt zu denken, daß ein unentschei-
dender Vortrag ihnen misfällt, und daß sie statt dessen
lieber irriges glauben wollen. Jndessen ist es der Na-
tur des menschlichen Verstandes gar nicht zuwider, den
Beyfall nicht etwan nur zu geben, oder zu versagen,
sondern ihn auch aufzuschieben, wo die Gründe nicht
überwiegend sind.

§. 146. Die Gemüthsruhe hilft eigentlich nur, den
moralischen Schein und das Uebereilte, Uebertriebene
und Unvollständige darinn vermeiden, weil die übrigen
Arten des Scheins aus ihren eigenen Gründen müssen
untersucht werden. Jndessen breitet sich der Vortheil
davon auch auf diese Arten aus, weil die Affecten den
Verstand umnebeln, und zu genauern Untersuchungen

unfä-

Von dem moraliſchen Schein.
Rechnung machen, und auch unterdruͤckte Affecten wir-
ken oͤfters gleichſam auf die Gedanken ſo zuruͤcke, daß
ſie ſich vielmehr zu einem Syſtem als zu einem andern
bequemen. Das Widrige und Angenehme miſcht ſich
auch ohne heftigern Sturm der Affecten auf eine feine-
re und unvermerktere Art in die Gedanken mit ein, und
uͤbereilt oͤfters das Urtheil, ſo wir faͤllen, wenn es gleich
noch mehrerer Pruͤfung beduͤrfte. Die Vorſtellung,
daß die Wahrheit immer Wahrheit bleibe,
wir moͤgen ſie gerne oder ungern haben,
muß
lebhaft bey uns eingepraͤgt ſeyn, und uns bey Unterſu-
chung der Dinge beſtaͤndig im Sinne ſchweben, wenn
wir Uebereilung vermeiden, Schritt fuͤr Schritt gehen,
und uns jedesmal mit dem, was wir gewiß haben, be-
gnuͤgen, und das noch nicht durchaus Erwieſene fuͤr nicht
mehr als es iſt, anſehen und ausgeben wollen. Wir
koͤnnen hier beylaͤufig anmerken, daß man ſich mit einer
ſolchen Beſcheidenheit bey Leuten, die auf ihre Fragen
ſchlechthin ja oder nein haben wollen, das Anſehen ei-
nes Gruͤblers oder auch eines Zweiflers zuziehen kann.
Die meiſten ſind ſo ſehr daran gewoͤhnt, alles individual
und durchaus beſtimmt zu denken, daß ein unentſchei-
dender Vortrag ihnen misfaͤllt, und daß ſie ſtatt deſſen
lieber irriges glauben wollen. Jndeſſen iſt es der Na-
tur des menſchlichen Verſtandes gar nicht zuwider, den
Beyfall nicht etwan nur zu geben, oder zu verſagen,
ſondern ihn auch aufzuſchieben, wo die Gruͤnde nicht
uͤberwiegend ſind.

§. 146. Die Gemuͤthsruhe hilft eigentlich nur, den
moraliſchen Schein und das Uebereilte, Uebertriebene
und Unvollſtaͤndige darinn vermeiden, weil die uͤbrigen
Arten des Scheins aus ihren eigenen Gruͤnden muͤſſen
unterſucht werden. Jndeſſen breitet ſich der Vortheil
davon auch auf dieſe Arten aus, weil die Affecten den
Verſtand umnebeln, und zu genauern Unterſuchungen

unfaͤ-
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[315/0321] Von dem moraliſchen Schein. Rechnung machen, und auch unterdruͤckte Affecten wir- ken oͤfters gleichſam auf die Gedanken ſo zuruͤcke, daß ſie ſich vielmehr zu einem Syſtem als zu einem andern bequemen. Das Widrige und Angenehme miſcht ſich auch ohne heftigern Sturm der Affecten auf eine feine- re und unvermerktere Art in die Gedanken mit ein, und uͤbereilt oͤfters das Urtheil, ſo wir faͤllen, wenn es gleich noch mehrerer Pruͤfung beduͤrfte. Die Vorſtellung, daß die Wahrheit immer Wahrheit bleibe, wir moͤgen ſie gerne oder ungern haben, muß lebhaft bey uns eingepraͤgt ſeyn, und uns bey Unterſu- chung der Dinge beſtaͤndig im Sinne ſchweben, wenn wir Uebereilung vermeiden, Schritt fuͤr Schritt gehen, und uns jedesmal mit dem, was wir gewiß haben, be- gnuͤgen, und das noch nicht durchaus Erwieſene fuͤr nicht mehr als es iſt, anſehen und ausgeben wollen. Wir koͤnnen hier beylaͤufig anmerken, daß man ſich mit einer ſolchen Beſcheidenheit bey Leuten, die auf ihre Fragen ſchlechthin ja oder nein haben wollen, das Anſehen ei- nes Gruͤblers oder auch eines Zweiflers zuziehen kann. Die meiſten ſind ſo ſehr daran gewoͤhnt, alles individual und durchaus beſtimmt zu denken, daß ein unentſchei- dender Vortrag ihnen misfaͤllt, und daß ſie ſtatt deſſen lieber irriges glauben wollen. Jndeſſen iſt es der Na- tur des menſchlichen Verſtandes gar nicht zuwider, den Beyfall nicht etwan nur zu geben, oder zu verſagen, ſondern ihn auch aufzuſchieben, wo die Gruͤnde nicht uͤberwiegend ſind. §. 146. Die Gemuͤthsruhe hilft eigentlich nur, den moraliſchen Schein und das Uebereilte, Uebertriebene und Unvollſtaͤndige darinn vermeiden, weil die uͤbrigen Arten des Scheins aus ihren eigenen Gruͤnden muͤſſen unterſucht werden. Jndeſſen breitet ſich der Vortheil davon auch auf dieſe Arten aus, weil die Affecten den Verſtand umnebeln, und zu genauern Unterſuchungen unfaͤ-

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Zitationshilfe: Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 315. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/321>, abgerufen am 23.11.2024.