len, als wenn sie richtig und die einzige, oder wenigstens die einzige erhebliche wäre, sich einbildet, er werde durch die reine Liebe zur Wahrheit getrieben, seine Meynung an Tag zu geben, und sey daher berechtigt, sich mit der Freyheit zu philosophiren zu schützen.
§. 144. Die Affecten haben überhaupt das, daß sie auf gewisse Seiten der Sachen aufmerksamer machen, weil man sie sich lieber und lebhafter vorstellt, und in so fer- ne helfen sie diese Seiten auch umständlicher aufdecken. Da aber gemeiniglich alles dabey übertrieben ist, so muß man das, so man gefunden oder zu finden ge- glaubt hat, entweder andern zu beurtheilen übergeben, oder die Beurtheilung nebst der Untersuchung der Ur- sachen in ruhigern Stunden vornehmen, zumal weil man sodann die übrigen Seiten der Sache, die man in dem Affecte nicht geachtet hatte, mit in Betrachtung ziehen kann. Es ist natürlich, daß man dadurch Mit- tel findet, die Wiederkehr des Affects vorauszusehen und zu vermeiden, oder wenigstens dem Blendwerk des- selben auszuweichen. Hypocondristen, bey denen der Anfall noch nicht zu stark geworden, ist ebenfalls anzu- rathen, nach dieser Vorschrift zu verfahren, ihre Geden- kensart bey ruhigem Gemüthe zum Grunde zu legen, den Lauf der Gedanken bey dem Anfang des Anfalls durch Lesen, Unterreden, Schlafen etc. abzubrechen, und zu diesen psychologischen Mitteln auch die physischen und medieinischen zu gebrauchen.
§. 145. Die Gemüthsruhe ist diejenige Lage der Seele, wobey der von den Affecten herrührende Schein der Dinge am meisten vermieden wird, und gleichsam von selbst wegbleibt, wobey wir den Empfindungen und Gedanken Raum geben, die Aufmerksamkeit auf jede Seite der Sache lenken, und die höhern Erkennt- nißkräfte frey gebrauchen können. Wir können uns aber dessen uneracht auf keine völlige Gleichgültigkeit
Rech-
IV. Hauptſtuͤck.
len, als wenn ſie richtig und die einzige, oder wenigſtens die einzige erhebliche waͤre, ſich einbildet, er werde durch die reine Liebe zur Wahrheit getrieben, ſeine Meynung an Tag zu geben, und ſey daher berechtigt, ſich mit der Freyheit zu philoſophiren zu ſchuͤtzen.
§. 144. Die Affecten haben uͤberhaupt das, daß ſie auf gewiſſe Seiten der Sachen aufmerkſamer machen, weil man ſie ſich lieber und lebhafter vorſtellt, und in ſo fer- ne helfen ſie dieſe Seiten auch umſtaͤndlicher aufdecken. Da aber gemeiniglich alles dabey uͤbertrieben iſt, ſo muß man das, ſo man gefunden oder zu finden ge- glaubt hat, entweder andern zu beurtheilen uͤbergeben, oder die Beurtheilung nebſt der Unterſuchung der Ur- ſachen in ruhigern Stunden vornehmen, zumal weil man ſodann die uͤbrigen Seiten der Sache, die man in dem Affecte nicht geachtet hatte, mit in Betrachtung ziehen kann. Es iſt natuͤrlich, daß man dadurch Mit- tel findet, die Wiederkehr des Affects vorauszuſehen und zu vermeiden, oder wenigſtens dem Blendwerk deſ- ſelben auszuweichen. Hypocondriſten, bey denen der Anfall noch nicht zu ſtark geworden, iſt ebenfalls anzu- rathen, nach dieſer Vorſchrift zu verfahren, ihre Geden- kensart bey ruhigem Gemuͤthe zum Grunde zu legen, den Lauf der Gedanken bey dem Anfang des Anfalls durch Leſen, Unterreden, Schlafen ꝛc. abzubrechen, und zu dieſen pſychologiſchen Mitteln auch die phyſiſchen und medieiniſchen zu gebrauchen.
§. 145. Die Gemuͤthsruhe iſt diejenige Lage der Seele, wobey der von den Affecten herruͤhrende Schein der Dinge am meiſten vermieden wird, und gleichſam von ſelbſt wegbleibt, wobey wir den Empfindungen und Gedanken Raum geben, die Aufmerkſamkeit auf jede Seite der Sache lenken, und die hoͤhern Erkennt- nißkraͤfte frey gebrauchen koͤnnen. Wir koͤnnen uns aber deſſen uneracht auf keine voͤllige Gleichguͤltigkeit
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IV. Hauptſtuͤck.
len, als wenn ſie richtig und die einzige, oder wenigſtens
die einzige erhebliche waͤre, ſich einbildet, er werde durch
die reine Liebe zur Wahrheit getrieben, ſeine Meynung
an Tag zu geben, und ſey daher berechtigt, ſich mit der
Freyheit zu philoſophiren zu ſchuͤtzen.
§. 144. Die Affecten haben uͤberhaupt das, daß ſie
auf gewiſſe Seiten der Sachen aufmerkſamer machen,
weil man ſie ſich lieber und lebhafter vorſtellt, und in ſo fer-
ne helfen ſie dieſe Seiten auch umſtaͤndlicher aufdecken.
Da aber gemeiniglich alles dabey uͤbertrieben iſt, ſo
muß man das, ſo man gefunden oder zu finden ge-
glaubt hat, entweder andern zu beurtheilen uͤbergeben,
oder die Beurtheilung nebſt der Unterſuchung der Ur-
ſachen in ruhigern Stunden vornehmen, zumal weil
man ſodann die uͤbrigen Seiten der Sache, die man in
dem Affecte nicht geachtet hatte, mit in Betrachtung
ziehen kann. Es iſt natuͤrlich, daß man dadurch Mit-
tel findet, die Wiederkehr des Affects vorauszuſehen
und zu vermeiden, oder wenigſtens dem Blendwerk deſ-
ſelben auszuweichen. Hypocondriſten, bey denen der
Anfall noch nicht zu ſtark geworden, iſt ebenfalls anzu-
rathen, nach dieſer Vorſchrift zu verfahren, ihre Geden-
kensart bey ruhigem Gemuͤthe zum Grunde zu legen,
den Lauf der Gedanken bey dem Anfang des Anfalls
durch Leſen, Unterreden, Schlafen ꝛc. abzubrechen, und
zu dieſen pſychologiſchen Mitteln auch die phyſiſchen und
medieiniſchen zu gebrauchen.
§. 145. Die Gemuͤthsruhe iſt diejenige Lage der
Seele, wobey der von den Affecten herruͤhrende Schein
der Dinge am meiſten vermieden wird, und gleichſam
von ſelbſt wegbleibt, wobey wir den Empfindungen
und Gedanken Raum geben, die Aufmerkſamkeit auf
jede Seite der Sache lenken, und die hoͤhern Erkennt-
nißkraͤfte frey gebrauchen koͤnnen. Wir koͤnnen uns
aber deſſen uneracht auf keine voͤllige Gleichguͤltigkeit
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/320>, abgerufen am 23.11.2024.
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