§. 200. Hingegen giebt es in den Sprachen Bey- wörter, welche nicht etwan einen einfachen Begriff, son- dern mehrere zusammengenommen vorstellen, ohne daß diese ein unumgängliches Ganzes ausmachen, sondern sowohl in der Anzahl als in den Graden solche Abwechs- lungen haben, daß man bald jedesmal aus dem Zusam- menhang der Rede bestimmen muß, welchen Umfang sie darinn haben, und wie weit oder auf welche Theile der Sache sie sich erstrecken. So ist an einer gülde- nen Uhr öfters nur das Gehäuse von Gold, oder auch nur vergüldet. Die meisten moralischen Eigenschaften sind von eben so unbestimmtem Umfange. Man un- tersuche, in wie vielerley Absichten eine Sache gut ge- nennt, oder was zum gelehrt seyn erfordert werde. Jn allen solchen Fällen, und wo es auf die Genauigkeit ankömmt, kann mun nicht wohl bey dem Wort anfan- gen, sondern man verfährt besser, wenn man die einzel- nen Eigenschaften jede für sich betrachtet, und sie so zu- sammennimmt, daß man zeigen kann, es komme ein Ganzes heraus, welches als ein Ganzes be- trachtet zu werden verdiene. Dadurch wird das Willkührliche in dem Begriffe gehoben, oder wenigstens so vermindert, daß man zureichenden Grund findet, den Begriff und seinen Umfang gelten zu lassen. Denn so wird der Begriff nach der Sache, und das Wort nach dem Begriffe gerichtet, und folglich diese drey Stücke in die erforderliche Uebereinstimmung gebracht.
§. 201. Wir haben bereits oben (§. 138. seqq.) An- laß gehabt, diejenigen Hauptwörter zu betrachten, wel- che nicht Substanzen, sondern Abstracta vorstellen, und dabey angemerkt, daß diese Wörter eine ganz besondere Classe ausmachen, daß sie in einer gelehrten Sprache zahlreicher seyn müssen, und daß sie sich auf eine noch ziemlich charakteristische Art durch besondere Endungen unterscheiden. Jn der That stellen auch z. E. im Deut-
schen
H 3
Von den Nennwoͤrtern.
§. 200. Hingegen giebt es in den Sprachen Bey- woͤrter, welche nicht etwan einen einfachen Begriff, ſon- dern mehrere zuſammengenommen vorſtellen, ohne daß dieſe ein unumgaͤngliches Ganzes ausmachen, ſondern ſowohl in der Anzahl als in den Graden ſolche Abwechs- lungen haben, daß man bald jedesmal aus dem Zuſam- menhang der Rede beſtimmen muß, welchen Umfang ſie darinn haben, und wie weit oder auf welche Theile der Sache ſie ſich erſtrecken. So iſt an einer guͤlde- nen Uhr oͤfters nur das Gehaͤuſe von Gold, oder auch nur verguͤldet. Die meiſten moraliſchen Eigenſchaften ſind von eben ſo unbeſtimmtem Umfange. Man un- terſuche, in wie vielerley Abſichten eine Sache gut ge- nennt, oder was zum gelehrt ſeyn erfordert werde. Jn allen ſolchen Faͤllen, und wo es auf die Genauigkeit ankoͤmmt, kann mun nicht wohl bey dem Wort anfan- gen, ſondern man verfaͤhrt beſſer, wenn man die einzel- nen Eigenſchaften jede fuͤr ſich betrachtet, und ſie ſo zu- ſammennimmt, daß man zeigen kann, es komme ein Ganzes heraus, welches als ein Ganzes be- trachtet zu werden verdiene. Dadurch wird das Willkuͤhrliche in dem Begriffe gehoben, oder wenigſtens ſo vermindert, daß man zureichenden Grund findet, den Begriff und ſeinen Umfang gelten zu laſſen. Denn ſo wird der Begriff nach der Sache, und das Wort nach dem Begriffe gerichtet, und folglich dieſe drey Stuͤcke in die erforderliche Uebereinſtimmung gebracht.
§. 201. Wir haben bereits oben (§. 138. ſeqq.) An- laß gehabt, diejenigen Hauptwoͤrter zu betrachten, wel- che nicht Subſtanzen, ſondern Abſtracta vorſtellen, und dabey angemerkt, daß dieſe Woͤrter eine ganz beſondere Claſſe ausmachen, daß ſie in einer gelehrten Sprache zahlreicher ſeyn muͤſſen, und daß ſie ſich auf eine noch ziemlich charakteriſtiſche Art durch beſondere Endungen unterſcheiden. Jn der That ſtellen auch z. E. im Deut-
ſchen
H 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0123"n="117"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">Von den Nennwoͤrtern.</hi></fw><lb/><p>§. 200. Hingegen giebt es in den Sprachen Bey-<lb/>
woͤrter, welche nicht etwan einen einfachen Begriff, ſon-<lb/>
dern mehrere zuſammengenommen vorſtellen, ohne daß<lb/>
dieſe ein unumgaͤngliches Ganzes ausmachen, ſondern<lb/>ſowohl in der Anzahl als in den Graden ſolche Abwechs-<lb/>
lungen haben, daß man bald jedesmal aus dem Zuſam-<lb/>
menhang der Rede beſtimmen muß, welchen Umfang<lb/>ſie darinn haben, und wie weit oder auf welche Theile<lb/>
der Sache ſie ſich erſtrecken. So iſt an einer <hirendition="#fr">guͤlde-<lb/>
nen</hi> Uhr oͤfters nur das Gehaͤuſe von Gold, oder auch<lb/>
nur verguͤldet. Die meiſten moraliſchen Eigenſchaften<lb/>ſind von eben ſo unbeſtimmtem Umfange. Man un-<lb/>
terſuche, in wie vielerley Abſichten eine Sache <hirendition="#fr">gut</hi> ge-<lb/>
nennt, oder was zum <hirendition="#fr">gelehrt</hi>ſeyn erfordert werde. Jn<lb/>
allen ſolchen Faͤllen, und wo es auf die <hirendition="#fr">Genauigkeit</hi><lb/>
ankoͤmmt, kann mun nicht wohl bey dem Wort anfan-<lb/>
gen, ſondern man verfaͤhrt beſſer, wenn man die einzel-<lb/>
nen Eigenſchaften jede fuͤr ſich betrachtet, und ſie ſo zu-<lb/>ſammennimmt, daß man zeigen kann, <hirendition="#fr">es komme ein<lb/>
Ganzes heraus, welches als ein Ganzes be-<lb/>
trachtet zu werden verdiene.</hi> Dadurch wird das<lb/>
Willkuͤhrliche in dem Begriffe gehoben, oder wenigſtens<lb/>ſo vermindert, daß man zureichenden Grund findet, den<lb/>
Begriff und ſeinen Umfang gelten zu laſſen. Denn ſo<lb/>
wird der Begriff nach der Sache, und das Wort nach<lb/>
dem Begriffe gerichtet, und folglich dieſe drey Stuͤcke in<lb/>
die erforderliche Uebereinſtimmung gebracht.</p><lb/><p>§. 201. Wir haben bereits oben (§. 138. <hirendition="#aq">ſeqq.</hi>) An-<lb/>
laß gehabt, diejenigen Hauptwoͤrter zu betrachten, wel-<lb/>
che nicht Subſtanzen, ſondern <hirendition="#aq">Abſtracta</hi> vorſtellen, und<lb/>
dabey angemerkt, daß dieſe Woͤrter eine ganz beſondere<lb/>
Claſſe ausmachen, daß ſie in einer gelehrten Sprache<lb/>
zahlreicher ſeyn muͤſſen, und daß ſie ſich auf eine noch<lb/>
ziemlich charakteriſtiſche Art durch beſondere Endungen<lb/>
unterſcheiden. Jn der That ſtellen auch z. E. im Deut-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">H 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">ſchen</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[117/0123]
Von den Nennwoͤrtern.
§. 200. Hingegen giebt es in den Sprachen Bey-
woͤrter, welche nicht etwan einen einfachen Begriff, ſon-
dern mehrere zuſammengenommen vorſtellen, ohne daß
dieſe ein unumgaͤngliches Ganzes ausmachen, ſondern
ſowohl in der Anzahl als in den Graden ſolche Abwechs-
lungen haben, daß man bald jedesmal aus dem Zuſam-
menhang der Rede beſtimmen muß, welchen Umfang
ſie darinn haben, und wie weit oder auf welche Theile
der Sache ſie ſich erſtrecken. So iſt an einer guͤlde-
nen Uhr oͤfters nur das Gehaͤuſe von Gold, oder auch
nur verguͤldet. Die meiſten moraliſchen Eigenſchaften
ſind von eben ſo unbeſtimmtem Umfange. Man un-
terſuche, in wie vielerley Abſichten eine Sache gut ge-
nennt, oder was zum gelehrt ſeyn erfordert werde. Jn
allen ſolchen Faͤllen, und wo es auf die Genauigkeit
ankoͤmmt, kann mun nicht wohl bey dem Wort anfan-
gen, ſondern man verfaͤhrt beſſer, wenn man die einzel-
nen Eigenſchaften jede fuͤr ſich betrachtet, und ſie ſo zu-
ſammennimmt, daß man zeigen kann, es komme ein
Ganzes heraus, welches als ein Ganzes be-
trachtet zu werden verdiene. Dadurch wird das
Willkuͤhrliche in dem Begriffe gehoben, oder wenigſtens
ſo vermindert, daß man zureichenden Grund findet, den
Begriff und ſeinen Umfang gelten zu laſſen. Denn ſo
wird der Begriff nach der Sache, und das Wort nach
dem Begriffe gerichtet, und folglich dieſe drey Stuͤcke in
die erforderliche Uebereinſtimmung gebracht.
§. 201. Wir haben bereits oben (§. 138. ſeqq.) An-
laß gehabt, diejenigen Hauptwoͤrter zu betrachten, wel-
che nicht Subſtanzen, ſondern Abſtracta vorſtellen, und
dabey angemerkt, daß dieſe Woͤrter eine ganz beſondere
Claſſe ausmachen, daß ſie in einer gelehrten Sprache
zahlreicher ſeyn muͤſſen, und daß ſie ſich auf eine noch
ziemlich charakteriſtiſche Art durch beſondere Endungen
unterſcheiden. Jn der That ſtellen auch z. E. im Deut-
ſchen
H 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/123>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.