§. 162. Da die Ableitungstheilchen Bestimmungen sind, die das Zeitwort bedeutender und individualer ma- chen, so müssen die Wurzelwörter diese Bestimmungen nicht an sich schon enthalten, weil man sonst ohne Noth überflüßig viele Wurzelwörter haben würde. Beson- ders müssen aus dem Wurzelwort die veränderlichen und trennbaren Bestimmungen wegbleiben, weil diese füglicher durch Ableitungstheilchen gegeben werden. Wir merken dieses theils zum Behufe der charakteristi- schen Sprache, theils auch deswegen an, weil die Gra- de der Vollkommenheit der wirklichen Sprachen auch nach dieser Regel können geprüft werden. Denn eine Sprache ist unstreitig desto vollkommener und charak- teristischer, je mehr und je mehrerley andere Wörter mit einem vorgegebenen Worte zugleich gegeben sind. Die- ses fordert, daß die Zeitwörter, welche Wurzelwörter sind, nur das Allgemeine einer Handlung, einer Verän- derung, eines Zustandes etc. vorstellen, und die besondern Bestimmungen durch Ableitungstheilchen, Hülfswörter und Bestimmungswörter ausgedrückt werden.
§. 163. Dieß will nun nicht sagen, daß man, wo der Ausdruck zu weitläuftig würde, nicht an Abkürzun- gen denken, und folglich zusammengesetzte Handlungen, die an sich ein Ganzes ausmachen, durch ein eigenes Wurzelwort anzeigen, oder die Handlung von ihrer Ab- sicht, Ursach, Mittel, wesentlichsten Theile etc. benennen solle. Die wirklichen Sprachen bieten uns hievon häu- fige Beyspiele an, und jede hat etwas besonderes, weil man sich bey Uebersetzungen aus einer Sprache in eine andere nicht selten genöthigt sieht, einzelne Wörter mit Umschreibungen zu vertauschen, und die Uebersetzung bald kürzer bald weitläuftiger zu machen, als die Ur- schrift ist.
§. 164. Die hebräische Sprache ist nebst ihren ver- wandten Sprachen, vielleicht die einzige, deren Wurzel-
wörter
IV. Hauptſtuͤck.
§. 162. Da die Ableitungstheilchen Beſtimmungen ſind, die das Zeitwort bedeutender und individualer ma- chen, ſo muͤſſen die Wurzelwoͤrter dieſe Beſtimmungen nicht an ſich ſchon enthalten, weil man ſonſt ohne Noth uͤberfluͤßig viele Wurzelwoͤrter haben wuͤrde. Beſon- ders muͤſſen aus dem Wurzelwort die veraͤnderlichen und trennbaren Beſtimmungen wegbleiben, weil dieſe fuͤglicher durch Ableitungstheilchen gegeben werden. Wir merken dieſes theils zum Behufe der charakteriſti- ſchen Sprache, theils auch deswegen an, weil die Gra- de der Vollkommenheit der wirklichen Sprachen auch nach dieſer Regel koͤnnen gepruͤft werden. Denn eine Sprache iſt unſtreitig deſto vollkommener und charak- teriſtiſcher, je mehr und je mehrerley andere Woͤrter mit einem vorgegebenen Worte zugleich gegeben ſind. Die- ſes fordert, daß die Zeitwoͤrter, welche Wurzelwoͤrter ſind, nur das Allgemeine einer Handlung, einer Veraͤn- derung, eines Zuſtandes ꝛc. vorſtellen, und die beſondern Beſtimmungen durch Ableitungstheilchen, Huͤlfswoͤrter und Beſtimmungswoͤrter ausgedruͤckt werden.
§. 163. Dieß will nun nicht ſagen, daß man, wo der Ausdruck zu weitlaͤuftig wuͤrde, nicht an Abkuͤrzun- gen denken, und folglich zuſammengeſetzte Handlungen, die an ſich ein Ganzes ausmachen, durch ein eigenes Wurzelwort anzeigen, oder die Handlung von ihrer Ab- ſicht, Urſach, Mittel, weſentlichſten Theile ꝛc. benennen ſolle. Die wirklichen Sprachen bieten uns hievon haͤu- fige Beyſpiele an, und jede hat etwas beſonderes, weil man ſich bey Ueberſetzungen aus einer Sprache in eine andere nicht ſelten genoͤthigt ſieht, einzelne Woͤrter mit Umſchreibungen zu vertauſchen, und die Ueberſetzung bald kuͤrzer bald weitlaͤuftiger zu machen, als die Ur- ſchrift iſt.
§. 164. Die hebraͤiſche Sprache iſt nebſt ihren ver- wandten Sprachen, vielleicht die einzige, deren Wurzel-
woͤrter
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IV. Hauptſtuͤck.
§. 162. Da die Ableitungstheilchen Beſtimmungen
ſind, die das Zeitwort bedeutender und individualer ma-
chen, ſo muͤſſen die Wurzelwoͤrter dieſe Beſtimmungen
nicht an ſich ſchon enthalten, weil man ſonſt ohne Noth
uͤberfluͤßig viele Wurzelwoͤrter haben wuͤrde. Beſon-
ders muͤſſen aus dem Wurzelwort die veraͤnderlichen
und trennbaren Beſtimmungen wegbleiben, weil dieſe
fuͤglicher durch Ableitungstheilchen gegeben werden.
Wir merken dieſes theils zum Behufe der charakteriſti-
ſchen Sprache, theils auch deswegen an, weil die Gra-
de der Vollkommenheit der wirklichen Sprachen auch
nach dieſer Regel koͤnnen gepruͤft werden. Denn eine
Sprache iſt unſtreitig deſto vollkommener und charak-
teriſtiſcher, je mehr und je mehrerley andere Woͤrter mit
einem vorgegebenen Worte zugleich gegeben ſind. Die-
ſes fordert, daß die Zeitwoͤrter, welche Wurzelwoͤrter
ſind, nur das Allgemeine einer Handlung, einer Veraͤn-
derung, eines Zuſtandes ꝛc. vorſtellen, und die beſondern
Beſtimmungen durch Ableitungstheilchen, Huͤlfswoͤrter
und Beſtimmungswoͤrter ausgedruͤckt werden.
§. 163. Dieß will nun nicht ſagen, daß man, wo
der Ausdruck zu weitlaͤuftig wuͤrde, nicht an Abkuͤrzun-
gen denken, und folglich zuſammengeſetzte Handlungen,
die an ſich ein Ganzes ausmachen, durch ein eigenes
Wurzelwort anzeigen, oder die Handlung von ihrer Ab-
ſicht, Urſach, Mittel, weſentlichſten Theile ꝛc. benennen
ſolle. Die wirklichen Sprachen bieten uns hievon haͤu-
fige Beyſpiele an, und jede hat etwas beſonderes, weil
man ſich bey Ueberſetzungen aus einer Sprache in eine
andere nicht ſelten genoͤthigt ſieht, einzelne Woͤrter mit
Umſchreibungen zu vertauſchen, und die Ueberſetzung
bald kuͤrzer bald weitlaͤuftiger zu machen, als die Ur-
ſchrift iſt.
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woͤrter
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Lambert, Johann Heinrich: Neues Organon. Bd. 2. Leipzig, 1764, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lambert_organon02_1764/100>, abgerufen am 23.11.2024.
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