Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 2. Tübingen, 1877.§. 60. Die Wirkungen der Reichsgesetze. bestände, die es regeln will, nicht mehr existiren. Der Wille, dender Staat in seinem Gesetze ausspricht, hat in vielen Fällen Le- bensverhältnisse, Einrichtungen und wirthschaftliche Zustände zur selbstverständlichen und deshalb stillschweigenden Voraussetzung, so daß bei dem Wegfallen dieser Voraussetzung auch der im Gesetz ausgesprochene Wille wegfällt. Von dem in dem Gesetze enthal- tenen Befehl gilt ganz dasselbe was überhaupt von jedem Befehl gilt; er kann seine Kraft und Wirksamkeit wegen veränderter Um- stände verlieren. In den Gesetzen werden die Thatbestände, auf welche die gesetzlichen Regeln Anwendung finden sollen, gewöhnlich nur unvollständig angegeben; sie sind aus den allgemeinen Lebens- verhältnissen und Kulturzuständen zu ergänzen. Die im Gesetze ausdrücklich aufgeführten Momente können fortbestehen, aber ihre Bedeutung völlig verändern, wenn sie mit andern Lebensverhält- nissen sich combiniren. Wünschenswerth wird es zwar auch in diesen Fällen sein, daß der Staat, um Zweifel zu vermeiden, das veraltete Gesetz ausdrücklich aufhebt; allein eine solche förmliche Aufhebung ist nicht absolut erforderlich, da der Wille des Staates, die neueren veränderten Lebensverhältnisse rechtlich zu regeln und sie Normen, die für andere Thatbestände gegeben waren, zu unterwerfen, überhaupt niemals vorhanden war und deshalb auch nicht aufgehoben zu werden braucht. Die sogenannte derogatorische Kraft des Gewohnheitsrechtes reduzirt sich daher auf eine Inter- pretation des Gesetzes und auf die Regel, daß das Gesetz auf solche Fälle nicht anzuwenden ist, auf welche es selbst nicht ange- wendet werden will 1). III. Nach den Eingangsworten des Art. 2 übt das Reich 1) Eine weitere Ausführung dieses mit der herrschenden Theorie vom
Gewohnheitsrecht im Widerspruch stehenden Gedankens muß ich mir für eine andere Gelegenheit vorbehalten. §. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze. beſtände, die es regeln will, nicht mehr exiſtiren. Der Wille, dender Staat in ſeinem Geſetze ausſpricht, hat in vielen Fällen Le- bensverhältniſſe, Einrichtungen und wirthſchaftliche Zuſtände zur ſelbſtverſtändlichen und deshalb ſtillſchweigenden Vorausſetzung, ſo daß bei dem Wegfallen dieſer Vorausſetzung auch der im Geſetz ausgeſprochene Wille wegfällt. Von dem in dem Geſetze enthal- tenen Befehl gilt ganz daſſelbe was überhaupt von jedem Befehl gilt; er kann ſeine Kraft und Wirkſamkeit wegen veränderter Um- ſtände verlieren. In den Geſetzen werden die Thatbeſtände, auf welche die geſetzlichen Regeln Anwendung finden ſollen, gewöhnlich nur unvollſtändig angegeben; ſie ſind aus den allgemeinen Lebens- verhältniſſen und Kulturzuſtänden zu ergänzen. Die im Geſetze ausdrücklich aufgeführten Momente können fortbeſtehen, aber ihre Bedeutung völlig verändern, wenn ſie mit andern Lebensverhält- niſſen ſich combiniren. Wünſchenswerth wird es zwar auch in dieſen Fällen ſein, daß der Staat, um Zweifel zu vermeiden, das veraltete Geſetz ausdrücklich aufhebt; allein eine ſolche förmliche Aufhebung iſt nicht abſolut erforderlich, da der Wille des Staates, die neueren veränderten Lebensverhältniſſe rechtlich zu regeln und ſie Normen, die für andere Thatbeſtände gegeben waren, zu unterwerfen, überhaupt niemals vorhanden war und deshalb auch nicht aufgehoben zu werden braucht. Die ſogenannte derogatoriſche Kraft des Gewohnheitsrechtes reduzirt ſich daher auf eine Inter- pretation des Geſetzes und auf die Regel, daß das Geſetz auf ſolche Fälle nicht anzuwenden iſt, auf welche es ſelbſt nicht ange- wendet werden will 1). III. Nach den Eingangsworten des Art. 2 übt das Reich 1) Eine weitere Ausführung dieſes mit der herrſchenden Theorie vom
Gewohnheitsrecht im Widerſpruch ſtehenden Gedankens muß ich mir für eine andere Gelegenheit vorbehalten. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0110" n="96"/><fw place="top" type="header">§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.</fw><lb/> beſtände, die es regeln will, nicht mehr exiſtiren. Der Wille, den<lb/> der Staat in ſeinem Geſetze ausſpricht, hat in vielen Fällen Le-<lb/> bensverhältniſſe, Einrichtungen und wirthſchaftliche Zuſtände zur<lb/> ſelbſtverſtändlichen und deshalb <hi rendition="#g">ſtillſchweigenden</hi> Vorausſetzung,<lb/> ſo daß bei dem Wegfallen dieſer Vorausſetzung auch der im Geſetz<lb/> ausgeſprochene Wille wegfällt. Von dem in dem Geſetze enthal-<lb/> tenen Befehl gilt ganz daſſelbe was überhaupt von jedem Befehl<lb/> gilt; er kann ſeine Kraft und Wirkſamkeit wegen veränderter Um-<lb/> ſtände verlieren. In den Geſetzen werden die Thatbeſtände, auf<lb/> welche die geſetzlichen Regeln Anwendung finden ſollen, gewöhnlich<lb/> nur unvollſtändig angegeben; ſie ſind aus den allgemeinen Lebens-<lb/> verhältniſſen und Kulturzuſtänden zu ergänzen. Die im Geſetze<lb/> ausdrücklich aufgeführten Momente können fortbeſtehen, aber ihre<lb/> Bedeutung völlig verändern, wenn ſie mit andern Lebensverhält-<lb/> niſſen ſich combiniren. Wünſchenswerth wird es zwar auch in<lb/> dieſen Fällen ſein, daß der Staat, um Zweifel zu vermeiden, das<lb/> veraltete Geſetz ausdrücklich aufhebt; allein eine ſolche förmliche<lb/> Aufhebung iſt nicht abſolut erforderlich, da der Wille des Staates,<lb/> die neueren veränderten Lebensverhältniſſe rechtlich zu regeln und<lb/> ſie Normen, die für <hi rendition="#g">andere</hi> Thatbeſtände gegeben waren, zu<lb/> unterwerfen, überhaupt niemals vorhanden war und deshalb auch<lb/> nicht aufgehoben zu werden braucht. Die ſogenannte derogatoriſche<lb/> Kraft des Gewohnheitsrechtes reduzirt ſich daher auf eine <hi rendition="#g">Inter-<lb/> pretation</hi> des Geſetzes und auf die Regel, daß das Geſetz auf<lb/> ſolche Fälle nicht anzuwenden iſt, auf welche es ſelbſt nicht ange-<lb/> wendet werden <hi rendition="#g">will</hi> <note place="foot" n="1)">Eine weitere Ausführung dieſes mit der herrſchenden Theorie vom<lb/> Gewohnheitsrecht im Widerſpruch ſtehenden Gedankens muß ich mir für eine<lb/> andere Gelegenheit vorbehalten.</note>.</p><lb/> <p><hi rendition="#aq">III.</hi> Nach den Eingangsworten des Art. 2 übt das Reich<lb/> das Recht der Geſetzgebung <hi rendition="#g">„innerhalb dieſes Bundesge-<lb/> bietes“</hi> aus. Dieſe Worte können unmöglich ausdrücken wollen,<lb/> daß die Reichsgeſetze außerhalb des Bundesgebietes nicht gelten.<lb/> Denn theils verſteht es ſich von ſelbſt, daß die Staatsgewalt der<lb/> Regel nach nur in dem ihr unterworfenen Gebiete ſich wirkſam<lb/> entfalten kann; die Worte würden daher einen äußerſt trivialen<lb/> Sinn haben, wenn ſie nur hervorheben ſollen, daß das Reich dem<lb/> Ausland keine Geſetze geben könne. Theils würden ſie etwas<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [96/0110]
§. 60. Die Wirkungen der Reichsgeſetze.
beſtände, die es regeln will, nicht mehr exiſtiren. Der Wille, den
der Staat in ſeinem Geſetze ausſpricht, hat in vielen Fällen Le-
bensverhältniſſe, Einrichtungen und wirthſchaftliche Zuſtände zur
ſelbſtverſtändlichen und deshalb ſtillſchweigenden Vorausſetzung,
ſo daß bei dem Wegfallen dieſer Vorausſetzung auch der im Geſetz
ausgeſprochene Wille wegfällt. Von dem in dem Geſetze enthal-
tenen Befehl gilt ganz daſſelbe was überhaupt von jedem Befehl
gilt; er kann ſeine Kraft und Wirkſamkeit wegen veränderter Um-
ſtände verlieren. In den Geſetzen werden die Thatbeſtände, auf
welche die geſetzlichen Regeln Anwendung finden ſollen, gewöhnlich
nur unvollſtändig angegeben; ſie ſind aus den allgemeinen Lebens-
verhältniſſen und Kulturzuſtänden zu ergänzen. Die im Geſetze
ausdrücklich aufgeführten Momente können fortbeſtehen, aber ihre
Bedeutung völlig verändern, wenn ſie mit andern Lebensverhält-
niſſen ſich combiniren. Wünſchenswerth wird es zwar auch in
dieſen Fällen ſein, daß der Staat, um Zweifel zu vermeiden, das
veraltete Geſetz ausdrücklich aufhebt; allein eine ſolche förmliche
Aufhebung iſt nicht abſolut erforderlich, da der Wille des Staates,
die neueren veränderten Lebensverhältniſſe rechtlich zu regeln und
ſie Normen, die für andere Thatbeſtände gegeben waren, zu
unterwerfen, überhaupt niemals vorhanden war und deshalb auch
nicht aufgehoben zu werden braucht. Die ſogenannte derogatoriſche
Kraft des Gewohnheitsrechtes reduzirt ſich daher auf eine Inter-
pretation des Geſetzes und auf die Regel, daß das Geſetz auf
ſolche Fälle nicht anzuwenden iſt, auf welche es ſelbſt nicht ange-
wendet werden will 1).
III. Nach den Eingangsworten des Art. 2 übt das Reich
das Recht der Geſetzgebung „innerhalb dieſes Bundesge-
bietes“ aus. Dieſe Worte können unmöglich ausdrücken wollen,
daß die Reichsgeſetze außerhalb des Bundesgebietes nicht gelten.
Denn theils verſteht es ſich von ſelbſt, daß die Staatsgewalt der
Regel nach nur in dem ihr unterworfenen Gebiete ſich wirkſam
entfalten kann; die Worte würden daher einen äußerſt trivialen
Sinn haben, wenn ſie nur hervorheben ſollen, daß das Reich dem
Ausland keine Geſetze geben könne. Theils würden ſie etwas
1) Eine weitere Ausführung dieſes mit der herrſchenden Theorie vom
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