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Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876.

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§. 10. Die Unterordnung der Einzelstaaten unter das Reich.
gelegenheiten gewahrt bleiben, in denen sie als sittliche Nothwendig-
keit empfunden werden. Dazu die Note: z. B. bei der Begründung
rein persönlicher Verhältnisse, namentlich bei der Eheschlie-
ßung
, Wahl des Glaubensbekenntnisses, geistiger
Mittheilung
und Verbindung mit andern." u. s. w.

Dahin führt die Begriffsbestimmung der Selbstverwaltung als
freie, unbesoldete Selbstthätigkeit der Bürger, daß schließlich Hei-
rathen, Zeitunglesen, Briefschreiben und vielleicht auch Essen,
Trinken und Tabakrauchen zum Bereich der Selbstverwaltung
gehören, da der Staat freilich alles dieses für seine Bürger nicht
besorgen kann, und "die freie Entscheidung und Thätigkeit" in
diesen Dingen gewiß von Jedem "als sittliche Nothwendigkeit
empfunden wird."

Um den Begriff der Selbstverwaltung für das Staatsrecht zu
bestimmen, muß man von einem andern Gesichtspunkt ausgehen.
Selbstverwaltung ist nicht der "Zwischenbau zwischen Staat und
Gesellschaft", sondern der Zwischenbau zwischen Staat und Unter-
than 1). Anstatt daß der Staat seine obrigkeitlichen Herrschafts-
rechte direct durchführt, überträgt er die Durchführung an Per-
sonen, die ihm zwar unterworfen sind, die aber ihm gegenüber eine
besondere öffentliche Rechtssphäre, eine begrifflich verschiedene Exi-
stenz haben. Selbstverwaltung beruht auf der Selbstbeschrän-
kung des Staates
hinsichtlich der Durchführung seiner Auf-
gaben und der Geltendmachung seiner obrigkeitlichen Herrschaftsrechte
auf die Aufstellung der dafür maßgebenden Normen und auf die
Controlle ihrer Befolgung, während die Handhabung dieser Normen
selbst Zwischengliedern übertragen wird. Es ist ganz unrichtig,
in der Selbstverwaltung die freie Thätigkeit der einzelnen Bürger
zu sehen. Der einzelne Bürger steht auch den Organen der Selbst-
verwaltung als Unterthan, als Object obrigkeitlicher Rechte gegen-
über; nicht die natürliche Freiheit des Einzelnen bethätigt sich in
der Selbstverwaltung, sondern die staatliche Herrschaft, der obrig-
keitliche Zwang über den Einzelnen. Nur ist es andererseits nicht

1) Die bürgerliche "Gesellschaft" oder "sociale Gemeinschaft" ist weder
Rechtssubject noch Object von Rechten noch ein rechtlich bestimmtes Verhältniß;
sie ist überhaupt kein Rechtsbegriff, mithin auch kein Begriff des Staatsrechts.
So bedeutsam der Begriff für Volkswirthschaftslehre und Politik sein mag, so
unbrauchbar und verwirrend ist er für die Rechtswissenschaft.

§. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich.
gelegenheiten gewahrt bleiben, in denen ſie als ſittliche Nothwendig-
keit empfunden werden. Dazu die Note: z. B. bei der Begründung
rein perſönlicher Verhältniſſe, namentlich bei der Eheſchlie-
ßung
, Wahl des Glaubensbekenntniſſes, geiſtiger
Mittheilung
und Verbindung mit andern.“ u. ſ. w.

Dahin führt die Begriffsbeſtimmung der Selbſtverwaltung als
freie, unbeſoldete Selbſtthätigkeit der Bürger, daß ſchließlich Hei-
rathen, Zeitungleſen, Briefſchreiben und vielleicht auch Eſſen,
Trinken und Tabakrauchen zum Bereich der Selbſtverwaltung
gehören, da der Staat freilich alles dieſes für ſeine Bürger nicht
beſorgen kann, und „die freie Entſcheidung und Thätigkeit“ in
dieſen Dingen gewiß von Jedem „als ſittliche Nothwendigkeit
empfunden wird.“

Um den Begriff der Selbſtverwaltung für das Staatsrecht zu
beſtimmen, muß man von einem andern Geſichtspunkt ausgehen.
Selbſtverwaltung iſt nicht der „Zwiſchenbau zwiſchen Staat und
Geſellſchaft“, ſondern der Zwiſchenbau zwiſchen Staat und Unter-
than 1). Anſtatt daß der Staat ſeine obrigkeitlichen Herrſchafts-
rechte direct durchführt, überträgt er die Durchführung an Per-
ſonen, die ihm zwar unterworfen ſind, die aber ihm gegenüber eine
beſondere öffentliche Rechtsſphäre, eine begrifflich verſchiedene Exi-
ſtenz haben. Selbſtverwaltung beruht auf der Selbſtbeſchrän-
kung des Staates
hinſichtlich der Durchführung ſeiner Auf-
gaben und der Geltendmachung ſeiner obrigkeitlichen Herrſchaftsrechte
auf die Aufſtellung der dafür maßgebenden Normen und auf die
Controlle ihrer Befolgung, während die Handhabung dieſer Normen
ſelbſt Zwiſchengliedern übertragen wird. Es iſt ganz unrichtig,
in der Selbſtverwaltung die freie Thätigkeit der einzelnen Bürger
zu ſehen. Der einzelne Bürger ſteht auch den Organen der Selbſt-
verwaltung als Unterthan, als Object obrigkeitlicher Rechte gegen-
über; nicht die natürliche Freiheit des Einzelnen bethätigt ſich in
der Selbſtverwaltung, ſondern die ſtaatliche Herrſchaft, der obrig-
keitliche Zwang über den Einzelnen. Nur iſt es andererſeits nicht

1) Die bürgerliche „Geſellſchaft“ oder „ſociale Gemeinſchaft“ iſt weder
Rechtsſubject noch Object von Rechten noch ein rechtlich beſtimmtes Verhältniß;
ſie iſt überhaupt kein Rechtsbegriff, mithin auch kein Begriff des Staatsrechts.
So bedeutſam der Begriff für Volkswirthſchaftslehre und Politik ſein mag, ſo
unbrauchbar und verwirrend iſt er für die Rechtswiſſenſchaft.
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[101/0121] §. 10. Die Unterordnung der Einzelſtaaten unter das Reich. gelegenheiten gewahrt bleiben, in denen ſie als ſittliche Nothwendig- keit empfunden werden. Dazu die Note: z. B. bei der Begründung rein perſönlicher Verhältniſſe, namentlich bei der Eheſchlie- ßung, Wahl des Glaubensbekenntniſſes, geiſtiger Mittheilung und Verbindung mit andern.“ u. ſ. w. Dahin führt die Begriffsbeſtimmung der Selbſtverwaltung als freie, unbeſoldete Selbſtthätigkeit der Bürger, daß ſchließlich Hei- rathen, Zeitungleſen, Briefſchreiben und vielleicht auch Eſſen, Trinken und Tabakrauchen zum Bereich der Selbſtverwaltung gehören, da der Staat freilich alles dieſes für ſeine Bürger nicht beſorgen kann, und „die freie Entſcheidung und Thätigkeit“ in dieſen Dingen gewiß von Jedem „als ſittliche Nothwendigkeit empfunden wird.“ Um den Begriff der Selbſtverwaltung für das Staatsrecht zu beſtimmen, muß man von einem andern Geſichtspunkt ausgehen. Selbſtverwaltung iſt nicht der „Zwiſchenbau zwiſchen Staat und Geſellſchaft“, ſondern der Zwiſchenbau zwiſchen Staat und Unter- than 1). Anſtatt daß der Staat ſeine obrigkeitlichen Herrſchafts- rechte direct durchführt, überträgt er die Durchführung an Per- ſonen, die ihm zwar unterworfen ſind, die aber ihm gegenüber eine beſondere öffentliche Rechtsſphäre, eine begrifflich verſchiedene Exi- ſtenz haben. Selbſtverwaltung beruht auf der Selbſtbeſchrän- kung des Staates hinſichtlich der Durchführung ſeiner Auf- gaben und der Geltendmachung ſeiner obrigkeitlichen Herrſchaftsrechte auf die Aufſtellung der dafür maßgebenden Normen und auf die Controlle ihrer Befolgung, während die Handhabung dieſer Normen ſelbſt Zwiſchengliedern übertragen wird. Es iſt ganz unrichtig, in der Selbſtverwaltung die freie Thätigkeit der einzelnen Bürger zu ſehen. Der einzelne Bürger ſteht auch den Organen der Selbſt- verwaltung als Unterthan, als Object obrigkeitlicher Rechte gegen- über; nicht die natürliche Freiheit des Einzelnen bethätigt ſich in der Selbſtverwaltung, ſondern die ſtaatliche Herrſchaft, der obrig- keitliche Zwang über den Einzelnen. Nur iſt es andererſeits nicht 1) Die bürgerliche „Geſellſchaft“ oder „ſociale Gemeinſchaft“ iſt weder Rechtsſubject noch Object von Rechten noch ein rechtlich beſtimmtes Verhältniß; ſie iſt überhaupt kein Rechtsbegriff, mithin auch kein Begriff des Staatsrechts. So bedeutſam der Begriff für Volkswirthſchaftslehre und Politik ſein mag, ſo unbrauchbar und verwirrend iſt er für die Rechtswiſſenſchaft.

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Zitationshilfe: Laband, Paul: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Bd. 1. Tübingen, 1876, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/laband_staatsrecht01_1876/121>, abgerufen am 30.04.2024.