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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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den letzten Bissen vom Munde weg, und deßhalb ist es gar nicht
möglich, daß so etwas bei uns vorkommt. Ist mir auch eine ganz
besondere Lebensart, daß ich einen Fremden schonen soll, der mich
nichts angeht, und soll mich dagegen an meinem Vater vergreifen,
der mir der Nächste ist in der Welt. Das bring' mir ein Anderer
in den Kopf, mir ist es zu hoch. Kommt mir gerade vor, wie wenn
im Krieg einer sich von den Feinden abwenden wollte und auf seine
Freunde schießen.

Friedrich war betroffen. Sein gesunder Verstand sagte ihm, daß
etwas Wahres an dieser Ansicht sei, und doch konnte er sie nicht zu¬
geben, da sie den Sitten und Gewohnheiten, unter denen er aufge¬
wachsen, völlig widersprach. Die beiden jungen Leute stritten eifrig
und konnten sich lange nicht verständigen. Darin waren sie zwar
Einer Ansicht, daß auf die "Herrschaft" keine strengen Begriffe
von Eigenthum anzuwenden, daß die Thiere im Walde, die
Fische im Wasser eigentlich Gemeingut seien; aber über den Rest
des großen Kapitels vom Mein und Dein konnten sie nicht einig
werden.

Stehlen und Stehlen ist zweierlei, rief Friedrich zuletzt. Geh du
nach Ebersbach und frag' von Haus zu Haus, ob die Leut' nicht
einen Unterschied machen, und die Leut' müssen doch auch wissen was
sie thun. Ueberall gilt's für eine größere Schande, wenn Einer einem
Fremden was stiehlt, als wenn er's den Eigenen nimmt; denn da
bleibt's ja in der Familie.

Dann sollte man ihn auch in der Familie abmurreln, sagte der
hartnäckige Zigeuner, und Jedem davon ein Stück zum Kochen geben,
wenn eure Gesetze so schlecht sind, daß sie bloß den einen Diebstahl
strafen, den andern aber nicht.

Oha, sagte Friedrich, umgekehrt ist auch gefahren. Selbiges ist
anders. Die Gesetze, die sind so überzwerch wie du, die behaupten
auch, Stehlen sei Stehlen. Wie es herauskam, daß ich meinem Va¬
ter ein paar hundert Gulden genommen hatte, die er mir nicht gut¬
willig geben wollte, um in die Fremde zu gehen, da thaten sie mich
geschwind nach Ludwigsburg zum Wollkardätschen, ob ich gleich erst
ein unverständiger vierzehnjähriger Bube war. Damals hab' ich auch
gelernt, was der Willkomm und Abschied für höfliche Complimente

den letzten Biſſen vom Munde weg, und deßhalb iſt es gar nicht
möglich, daß ſo etwas bei uns vorkommt. Iſt mir auch eine ganz
beſondere Lebensart, daß ich einen Fremden ſchonen ſoll, der mich
nichts angeht, und ſoll mich dagegen an meinem Vater vergreifen,
der mir der Nächſte iſt in der Welt. Das bring' mir ein Anderer
in den Kopf, mir iſt es zu hoch. Kommt mir gerade vor, wie wenn
im Krieg einer ſich von den Feinden abwenden wollte und auf ſeine
Freunde ſchießen.

Friedrich war betroffen. Sein geſunder Verſtand ſagte ihm, daß
etwas Wahres an dieſer Anſicht ſei, und doch konnte er ſie nicht zu¬
geben, da ſie den Sitten und Gewohnheiten, unter denen er aufge¬
wachſen, völlig widerſprach. Die beiden jungen Leute ſtritten eifrig
und konnten ſich lange nicht verſtändigen. Darin waren ſie zwar
Einer Anſicht, daß auf die „Herrſchaft“ keine ſtrengen Begriffe
von Eigenthum anzuwenden, daß die Thiere im Walde, die
Fiſche im Waſſer eigentlich Gemeingut ſeien; aber über den Reſt
des großen Kapitels vom Mein und Dein konnten ſie nicht einig
werden.

Stehlen und Stehlen iſt zweierlei, rief Friedrich zuletzt. Geh du
nach Ebersbach und frag' von Haus zu Haus, ob die Leut' nicht
einen Unterſchied machen, und die Leut' müſſen doch auch wiſſen was
ſie thun. Ueberall gilt's für eine größere Schande, wenn Einer einem
Fremden was ſtiehlt, als wenn er's den Eigenen nimmt; denn da
bleibt's ja in der Familie.

Dann ſollte man ihn auch in der Familie abmurreln, ſagte der
hartnäckige Zigeuner, und Jedem davon ein Stück zum Kochen geben,
wenn eure Geſetze ſo ſchlecht ſind, daß ſie bloß den einen Diebſtahl
ſtrafen, den andern aber nicht.

Oha, ſagte Friedrich, umgekehrt iſt auch gefahren. Selbiges iſt
anders. Die Geſetze, die ſind ſo überzwerch wie du, die behaupten
auch, Stehlen ſei Stehlen. Wie es herauskam, daß ich meinem Va¬
ter ein paar hundert Gulden genommen hatte, die er mir nicht gut¬
willig geben wollte, um in die Fremde zu gehen, da thaten ſie mich
geſchwind nach Ludwigsburg zum Wollkardätſchen, ob ich gleich erſt
ein unverſtändiger vierzehnjähriger Bube war. Damals hab' ich auch
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[10/0026] den letzten Biſſen vom Munde weg, und deßhalb iſt es gar nicht möglich, daß ſo etwas bei uns vorkommt. Iſt mir auch eine ganz beſondere Lebensart, daß ich einen Fremden ſchonen ſoll, der mich nichts angeht, und ſoll mich dagegen an meinem Vater vergreifen, der mir der Nächſte iſt in der Welt. Das bring' mir ein Anderer in den Kopf, mir iſt es zu hoch. Kommt mir gerade vor, wie wenn im Krieg einer ſich von den Feinden abwenden wollte und auf ſeine Freunde ſchießen. Friedrich war betroffen. Sein geſunder Verſtand ſagte ihm, daß etwas Wahres an dieſer Anſicht ſei, und doch konnte er ſie nicht zu¬ geben, da ſie den Sitten und Gewohnheiten, unter denen er aufge¬ wachſen, völlig widerſprach. Die beiden jungen Leute ſtritten eifrig und konnten ſich lange nicht verſtändigen. Darin waren ſie zwar Einer Anſicht, daß auf die „Herrſchaft“ keine ſtrengen Begriffe von Eigenthum anzuwenden, daß die Thiere im Walde, die Fiſche im Waſſer eigentlich Gemeingut ſeien; aber über den Reſt des großen Kapitels vom Mein und Dein konnten ſie nicht einig werden. Stehlen und Stehlen iſt zweierlei, rief Friedrich zuletzt. Geh du nach Ebersbach und frag' von Haus zu Haus, ob die Leut' nicht einen Unterſchied machen, und die Leut' müſſen doch auch wiſſen was ſie thun. Ueberall gilt's für eine größere Schande, wenn Einer einem Fremden was ſtiehlt, als wenn er's den Eigenen nimmt; denn da bleibt's ja in der Familie. Dann ſollte man ihn auch in der Familie abmurreln, ſagte der hartnäckige Zigeuner, und Jedem davon ein Stück zum Kochen geben, wenn eure Geſetze ſo ſchlecht ſind, daß ſie bloß den einen Diebſtahl ſtrafen, den andern aber nicht. Oha, ſagte Friedrich, umgekehrt iſt auch gefahren. Selbiges iſt anders. Die Geſetze, die ſind ſo überzwerch wie du, die behaupten auch, Stehlen ſei Stehlen. Wie es herauskam, daß ich meinem Va¬ ter ein paar hundert Gulden genommen hatte, die er mir nicht gut¬ willig geben wollte, um in die Fremde zu gehen, da thaten ſie mich geſchwind nach Ludwigsburg zum Wollkardätſchen, ob ich gleich erſt ein unverſtändiger vierzehnjähriger Bube war. Damals hab' ich auch gelernt, was der Willkomm und Abſchied für höfliche Complimente

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/26>, abgerufen am 21.11.2024.