Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

emporführende Treppe hinauf, welche den rechtmäßigen Eingang ins
Haus gewährte. Im Hinaufsteigen konnte er durch das Fenster sehen,
und seine Auslegung der nächtlichen Briefträgerei hatte ihn nicht ge¬
täuscht, denn Christine saß allein in der Stube und las, so schien es
wenigstens, ganz vertieft im Gesangbuch, auf dessen aufgeschlagener
Seite ein Blättchen mit einem flammenden, von einem Schwert durch¬
stochenen Herzen eingelegt war.

Sie mußte jedoch nicht so vertieft gewesen sein als sie scheinen
wollte, denn als er zur Thüre eintrat, saß sie nicht mehr am Tisch,
sondern stand aufrecht mit dem Buch in der Hand; allein so eifrig sie
darin zu lesen schien, so zeigte sich doch in ihren Mienen eine Span¬
nung und Bewegung, welche deutlich verrieth, daß ihre Gedanken ganz
anderswo als bei einem geistlichen Liede waren. Sie war ihm nie so
schön vorgekommen: ihr helles Gesicht, obgleich heute nicht so roth¬
wangig wie sonst, blinkte von Morgenfrische, und die gelblich blonden,
streng gescheitelten Haare umschloßen es mit einem freundlichen Rahmen;
ein feuchter Schimmer schwamm in den niedergeschlagenen Augen;
durch das schwarze Gesangbuch, das in den gefalteten Händen ruhte,
erhielt das gleichfalls schwarze Wamms, das sonst ein alltäglicher An¬
blick ist, etwas Feierliches, das den lockenden Reiz der Erscheinung
dämpfte; das ärmliche Unterkleid war von einer reinlichen weißen
Schürze beinahe ganz zugedeckt.

Sein Herz klopfte, während er im langsamen Eintreten die lieb¬
reizende Gestalt mit den Augen verschlang. Ist's erlaubt? sagte er,
an der Thüre stehen bleibend.

Ich kann's nicht verwehren, antwortete sie und ihre Augen ver¬
irrten sich von dem Liede, aber nicht weiter als bis an den Rand
des Buches.

Sie trutzt mit mir, dachte er.

Beide schwiegen geraume Zeit stille, dann begann er wieder: Ich
hab' glaubt, wenn man Einen einlade, so vergönne man ihm auch ein
gutes Wort. Wird ja Einer nicht vor Amt geladen, ohne daß man
ihm dort eröffnet, warum er vorgeladen ist.

Das ist auch meine Absicht gewesen, sagte Christine, aber wie ich
den Brief geschrieben hab' und bei Nacht ausgetragen, weil ich meine
Brüder nicht hab' drum wissen lassen wollen, und hab' nicht früher

emporführende Treppe hinauf, welche den rechtmäßigen Eingang ins
Haus gewährte. Im Hinaufſteigen konnte er durch das Fenſter ſehen,
und ſeine Auslegung der nächtlichen Briefträgerei hatte ihn nicht ge¬
täuſcht, denn Chriſtine ſaß allein in der Stube und las, ſo ſchien es
wenigſtens, ganz vertieft im Geſangbuch, auf deſſen aufgeſchlagener
Seite ein Blättchen mit einem flammenden, von einem Schwert durch¬
ſtochenen Herzen eingelegt war.

Sie mußte jedoch nicht ſo vertieft geweſen ſein als ſie ſcheinen
wollte, denn als er zur Thüre eintrat, ſaß ſie nicht mehr am Tiſch,
ſondern ſtand aufrecht mit dem Buch in der Hand; allein ſo eifrig ſie
darin zu leſen ſchien, ſo zeigte ſich doch in ihren Mienen eine Span¬
nung und Bewegung, welche deutlich verrieth, daß ihre Gedanken ganz
anderswo als bei einem geiſtlichen Liede waren. Sie war ihm nie ſo
ſchön vorgekommen: ihr helles Geſicht, obgleich heute nicht ſo roth¬
wangig wie ſonſt, blinkte von Morgenfriſche, und die gelblich blonden,
ſtreng geſcheitelten Haare umſchloßen es mit einem freundlichen Rahmen;
ein feuchter Schimmer ſchwamm in den niedergeſchlagenen Augen;
durch das ſchwarze Geſangbuch, das in den gefalteten Händen ruhte,
erhielt das gleichfalls ſchwarze Wamms, das ſonſt ein alltäglicher An¬
blick iſt, etwas Feierliches, das den lockenden Reiz der Erſcheinung
dämpfte; das ärmliche Unterkleid war von einer reinlichen weißen
Schürze beinahe ganz zugedeckt.

Sein Herz klopfte, während er im langſamen Eintreten die lieb¬
reizende Geſtalt mit den Augen verſchlang. Iſt's erlaubt? ſagte er,
an der Thüre ſtehen bleibend.

Ich kann's nicht verwehren, antwortete ſie und ihre Augen ver¬
irrten ſich von dem Liede, aber nicht weiter als bis an den Rand
des Buches.

Sie trutzt mit mir, dachte er.

Beide ſchwiegen geraume Zeit ſtille, dann begann er wieder: Ich
hab' glaubt, wenn man Einen einlade, ſo vergönne man ihm auch ein
gutes Wort. Wird ja Einer nicht vor Amt geladen, ohne daß man
ihm dort eröffnet, warum er vorgeladen iſt.

Das iſt auch meine Abſicht geweſen, ſagte Chriſtine, aber wie ich
den Brief geſchrieben hab' und bei Nacht ausgetragen, weil ich meine
Brüder nicht hab' drum wiſſen laſſen wollen, und hab' nicht früher

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0136" n="120"/>
emporführende Treppe hinauf, welche den rechtmäßigen Eingang ins<lb/>
Haus gewährte. Im Hinauf&#x017F;teigen konnte er durch das Fen&#x017F;ter &#x017F;ehen,<lb/>
und &#x017F;eine Auslegung der nächtlichen Briefträgerei hatte ihn nicht ge¬<lb/>
täu&#x017F;cht, denn Chri&#x017F;tine &#x017F;aß allein in der Stube und las, &#x017F;o &#x017F;chien es<lb/>
wenig&#x017F;tens, ganz vertieft im Ge&#x017F;angbuch, auf de&#x017F;&#x017F;en aufge&#x017F;chlagener<lb/>
Seite ein Blättchen mit einem flammenden, von einem Schwert durch¬<lb/>
&#x017F;tochenen Herzen eingelegt war.</p><lb/>
        <p>Sie mußte jedoch nicht &#x017F;o vertieft gewe&#x017F;en &#x017F;ein als &#x017F;ie &#x017F;cheinen<lb/>
wollte, denn als er zur Thüre eintrat, &#x017F;&#x017F;ie nicht mehr am Ti&#x017F;ch,<lb/>
&#x017F;ondern &#x017F;tand aufrecht mit dem Buch in der Hand; allein &#x017F;o eifrig &#x017F;ie<lb/>
darin zu le&#x017F;en &#x017F;chien, &#x017F;o zeigte &#x017F;ich doch in ihren Mienen eine Span¬<lb/>
nung und Bewegung, welche deutlich verrieth, daß ihre Gedanken ganz<lb/>
anderswo als bei einem gei&#x017F;tlichen Liede waren. Sie war ihm nie &#x017F;o<lb/>
&#x017F;chön vorgekommen: ihr helles Ge&#x017F;icht, obgleich heute nicht &#x017F;o roth¬<lb/>
wangig wie &#x017F;on&#x017F;t, blinkte von Morgenfri&#x017F;che, und die gelblich blonden,<lb/>
&#x017F;treng ge&#x017F;cheitelten Haare um&#x017F;chloßen es mit einem freundlichen Rahmen;<lb/>
ein feuchter Schimmer &#x017F;chwamm in den niederge&#x017F;chlagenen Augen;<lb/>
durch das &#x017F;chwarze Ge&#x017F;angbuch, das in den gefalteten Händen ruhte,<lb/>
erhielt das gleichfalls &#x017F;chwarze Wamms, das &#x017F;on&#x017F;t ein alltäglicher An¬<lb/>
blick i&#x017F;t, etwas Feierliches, das den lockenden Reiz der Er&#x017F;cheinung<lb/>
dämpfte; das ärmliche Unterkleid war von einer reinlichen weißen<lb/>
Schürze beinahe ganz zugedeckt.</p><lb/>
        <p>Sein Herz klopfte, während er im lang&#x017F;amen Eintreten die lieb¬<lb/>
reizende Ge&#x017F;talt mit den Augen ver&#x017F;chlang. I&#x017F;t's erlaubt? &#x017F;agte er,<lb/>
an der Thüre &#x017F;tehen bleibend.</p><lb/>
        <p>Ich kann's nicht verwehren, antwortete &#x017F;ie und ihre Augen ver¬<lb/>
irrten &#x017F;ich von dem Liede, aber nicht weiter als bis an den Rand<lb/>
des Buches.</p><lb/>
        <p>Sie trutzt mit mir, dachte er.</p><lb/>
        <p>Beide &#x017F;chwiegen geraume Zeit &#x017F;tille, dann begann er wieder: Ich<lb/>
hab' glaubt, wenn man Einen einlade, &#x017F;o vergönne man ihm auch ein<lb/>
gutes Wort. Wird ja Einer nicht vor Amt geladen, ohne daß man<lb/>
ihm dort eröffnet, warum er vorgeladen i&#x017F;t.</p><lb/>
        <p>Das i&#x017F;t auch meine Ab&#x017F;icht gewe&#x017F;en, &#x017F;agte Chri&#x017F;tine, aber wie ich<lb/>
den Brief ge&#x017F;chrieben hab' und bei Nacht ausgetragen, weil ich meine<lb/>
Brüder nicht hab' drum wi&#x017F;&#x017F;en la&#x017F;&#x017F;en wollen, und hab' nicht früher<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[120/0136] emporführende Treppe hinauf, welche den rechtmäßigen Eingang ins Haus gewährte. Im Hinaufſteigen konnte er durch das Fenſter ſehen, und ſeine Auslegung der nächtlichen Briefträgerei hatte ihn nicht ge¬ täuſcht, denn Chriſtine ſaß allein in der Stube und las, ſo ſchien es wenigſtens, ganz vertieft im Geſangbuch, auf deſſen aufgeſchlagener Seite ein Blättchen mit einem flammenden, von einem Schwert durch¬ ſtochenen Herzen eingelegt war. Sie mußte jedoch nicht ſo vertieft geweſen ſein als ſie ſcheinen wollte, denn als er zur Thüre eintrat, ſaß ſie nicht mehr am Tiſch, ſondern ſtand aufrecht mit dem Buch in der Hand; allein ſo eifrig ſie darin zu leſen ſchien, ſo zeigte ſich doch in ihren Mienen eine Span¬ nung und Bewegung, welche deutlich verrieth, daß ihre Gedanken ganz anderswo als bei einem geiſtlichen Liede waren. Sie war ihm nie ſo ſchön vorgekommen: ihr helles Geſicht, obgleich heute nicht ſo roth¬ wangig wie ſonſt, blinkte von Morgenfriſche, und die gelblich blonden, ſtreng geſcheitelten Haare umſchloßen es mit einem freundlichen Rahmen; ein feuchter Schimmer ſchwamm in den niedergeſchlagenen Augen; durch das ſchwarze Geſangbuch, das in den gefalteten Händen ruhte, erhielt das gleichfalls ſchwarze Wamms, das ſonſt ein alltäglicher An¬ blick iſt, etwas Feierliches, das den lockenden Reiz der Erſcheinung dämpfte; das ärmliche Unterkleid war von einer reinlichen weißen Schürze beinahe ganz zugedeckt. Sein Herz klopfte, während er im langſamen Eintreten die lieb¬ reizende Geſtalt mit den Augen verſchlang. Iſt's erlaubt? ſagte er, an der Thüre ſtehen bleibend. Ich kann's nicht verwehren, antwortete ſie und ihre Augen ver¬ irrten ſich von dem Liede, aber nicht weiter als bis an den Rand des Buches. Sie trutzt mit mir, dachte er. Beide ſchwiegen geraume Zeit ſtille, dann begann er wieder: Ich hab' glaubt, wenn man Einen einlade, ſo vergönne man ihm auch ein gutes Wort. Wird ja Einer nicht vor Amt geladen, ohne daß man ihm dort eröffnet, warum er vorgeladen iſt. Das iſt auch meine Abſicht geweſen, ſagte Chriſtine, aber wie ich den Brief geſchrieben hab' und bei Nacht ausgetragen, weil ich meine Brüder nicht hab' drum wiſſen laſſen wollen, und hab' nicht früher

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/136
Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/136>, abgerufen am 03.05.2024.