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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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und Verzweiflung. Im ersten Augenblick entschloß er sich trotzig zum
Dableiben, als ob sie ihm den gefürchteten Schimpf bereits angethan
hätte; im nächsten trieb ihn sein kochendes Herz wieder zum Gehen
an. Aus diesen blitzschnell und gewaltsam abwechselnden Empfindun¬
gen der heftigsten Leidenschaft und des mißtrauisch aufgeregten Stolzes
entsprang endlich eine Liebeserklärung, die keiner Anleitung zur Kunst
des Liebens entnommen war, auch keineswegs ein Muster in derselben
genannt zu werden verdient, aber als eine glaubwürdig überlieferte
und ihren Helden scharf zeichnende Begebenheit nicht verschwiegen wer¬
den darf.

Daß er Christinen diesen Vormittag allein zu Hause finden würde,
hatte ihm ihr Brief klar gesagt, obgleich es nicht mit Worten darin
zu lesen stand: denn wozu würde sie sich gestern Nacht so viele Mühe
gegeben haben, den Brief noch in seine Hände zu bringen, wenn sie
nicht sicher gewesen wäre, daß die Ihrigen am Neujahrsfeste alle in
die Kirche gehen würden.

Die Glocke hatte schon das zweite Zeichen geläutet, als er die
Sonne verließ und mit einer Bedächtigkeit, welcher man seinen innern
Zustand nicht angesehen haben würde, verschiedene Seitengäßchen ein¬
schlug, um möglichst wenigen Kirchengängern zu begegnen. Und doch
konnte er sich überall sehen lassen: in dem neuen Rock von dunkelblauem
Tuch mit großen Knöpfen und in den kurzen Beinkleidern von schwarzem
Sammt -- die hirschledernen, über die er gegen den Zigeuner gescherzt
hatte, waren seit Weihnachten verbannt -- trat seine gedrungene Gestalt
stattlich hervor; das scharlachene Brusttuch (Weste) paßte zu dem Stahl
und Messer, die er in den Gürtel gesteckt; der Dreispitz auf dem Kopfe gab
dem jugendlich kräftigen Gesicht ein unternehmendes Aussehen, und die
weißen Strümpfe über den Schnallenschuhen umschloßen ein derbes Paar
Beine, auf welchen der Mann im Vollgefühl der Jugend wie auf fe¬
sten Säulen wandelte. Er wandte' sich dem Felde zu, wo er zu dieser
Stunde auf niemand treffen konnte und wo die dicht fallenden Schnee¬
flocken die Spuren seiner Tritte schnell wieder ausfüllten. Die Glo¬
cken läuteten zusammen; als sie schwiegen und die Orgel einfiel, die
man bis auf's Feld heraus hörte, lenkte er die Schritte zu des Hirsch¬
bauern Haus. Er fand die hintere Thür angelehnt, verschmähte es
aber, sich derselben zu bedienen, sondern stieg die außen an der Seite

und Verzweiflung. Im erſten Augenblick entſchloß er ſich trotzig zum
Dableiben, als ob ſie ihm den gefürchteten Schimpf bereits angethan
hätte; im nächſten trieb ihn ſein kochendes Herz wieder zum Gehen
an. Aus dieſen blitzſchnell und gewaltſam abwechſelnden Empfindun¬
gen der heftigſten Leidenſchaft und des mißtrauiſch aufgeregten Stolzes
entſprang endlich eine Liebeserklärung, die keiner Anleitung zur Kunſt
des Liebens entnommen war, auch keineswegs ein Muſter in derſelben
genannt zu werden verdient, aber als eine glaubwürdig überlieferte
und ihren Helden ſcharf zeichnende Begebenheit nicht verſchwiegen wer¬
den darf.

Daß er Chriſtinen dieſen Vormittag allein zu Hauſe finden würde,
hatte ihm ihr Brief klar geſagt, obgleich es nicht mit Worten darin
zu leſen ſtand: denn wozu würde ſie ſich geſtern Nacht ſo viele Mühe
gegeben haben, den Brief noch in ſeine Hände zu bringen, wenn ſie
nicht ſicher geweſen wäre, daß die Ihrigen am Neujahrsfeſte alle in
die Kirche gehen würden.

Die Glocke hatte ſchon das zweite Zeichen geläutet, als er die
Sonne verließ und mit einer Bedächtigkeit, welcher man ſeinen innern
Zuſtand nicht angeſehen haben würde, verſchiedene Seitengäßchen ein¬
ſchlug, um möglichſt wenigen Kirchengängern zu begegnen. Und doch
konnte er ſich überall ſehen laſſen: in dem neuen Rock von dunkelblauem
Tuch mit großen Knöpfen und in den kurzen Beinkleidern von ſchwarzem
Sammt — die hirſchledernen, über die er gegen den Zigeuner geſcherzt
hatte, waren ſeit Weihnachten verbannt — trat ſeine gedrungene Geſtalt
ſtattlich hervor; das ſcharlachene Bruſttuch (Weſte) paßte zu dem Stahl
und Meſſer, die er in den Gürtel geſteckt; der Dreiſpitz auf dem Kopfe gab
dem jugendlich kräftigen Geſicht ein unternehmendes Ausſehen, und die
weißen Strümpfe über den Schnallenſchuhen umſchloßen ein derbes Paar
Beine, auf welchen der Mann im Vollgefühl der Jugend wie auf fe¬
ſten Säulen wandelte. Er wandte' ſich dem Felde zu, wo er zu dieſer
Stunde auf niemand treffen konnte und wo die dicht fallenden Schnee¬
flocken die Spuren ſeiner Tritte ſchnell wieder ausfüllten. Die Glo¬
cken läuteten zuſammen; als ſie ſchwiegen und die Orgel einfiel, die
man bis auf's Feld heraus hörte, lenkte er die Schritte zu des Hirſch¬
bauern Haus. Er fand die hintere Thür angelehnt, verſchmähte es
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[119/0135] und Verzweiflung. Im erſten Augenblick entſchloß er ſich trotzig zum Dableiben, als ob ſie ihm den gefürchteten Schimpf bereits angethan hätte; im nächſten trieb ihn ſein kochendes Herz wieder zum Gehen an. Aus dieſen blitzſchnell und gewaltſam abwechſelnden Empfindun¬ gen der heftigſten Leidenſchaft und des mißtrauiſch aufgeregten Stolzes entſprang endlich eine Liebeserklärung, die keiner Anleitung zur Kunſt des Liebens entnommen war, auch keineswegs ein Muſter in derſelben genannt zu werden verdient, aber als eine glaubwürdig überlieferte und ihren Helden ſcharf zeichnende Begebenheit nicht verſchwiegen wer¬ den darf. Daß er Chriſtinen dieſen Vormittag allein zu Hauſe finden würde, hatte ihm ihr Brief klar geſagt, obgleich es nicht mit Worten darin zu leſen ſtand: denn wozu würde ſie ſich geſtern Nacht ſo viele Mühe gegeben haben, den Brief noch in ſeine Hände zu bringen, wenn ſie nicht ſicher geweſen wäre, daß die Ihrigen am Neujahrsfeſte alle in die Kirche gehen würden. Die Glocke hatte ſchon das zweite Zeichen geläutet, als er die Sonne verließ und mit einer Bedächtigkeit, welcher man ſeinen innern Zuſtand nicht angeſehen haben würde, verſchiedene Seitengäßchen ein¬ ſchlug, um möglichſt wenigen Kirchengängern zu begegnen. Und doch konnte er ſich überall ſehen laſſen: in dem neuen Rock von dunkelblauem Tuch mit großen Knöpfen und in den kurzen Beinkleidern von ſchwarzem Sammt — die hirſchledernen, über die er gegen den Zigeuner geſcherzt hatte, waren ſeit Weihnachten verbannt — trat ſeine gedrungene Geſtalt ſtattlich hervor; das ſcharlachene Bruſttuch (Weſte) paßte zu dem Stahl und Meſſer, die er in den Gürtel geſteckt; der Dreiſpitz auf dem Kopfe gab dem jugendlich kräftigen Geſicht ein unternehmendes Ausſehen, und die weißen Strümpfe über den Schnallenſchuhen umſchloßen ein derbes Paar Beine, auf welchen der Mann im Vollgefühl der Jugend wie auf fe¬ ſten Säulen wandelte. Er wandte' ſich dem Felde zu, wo er zu dieſer Stunde auf niemand treffen konnte und wo die dicht fallenden Schnee¬ flocken die Spuren ſeiner Tritte ſchnell wieder ausfüllten. Die Glo¬ cken läuteten zuſammen; als ſie ſchwiegen und die Orgel einfiel, die man bis auf's Feld heraus hörte, lenkte er die Schritte zu des Hirſch¬ bauern Haus. Er fand die hintere Thür angelehnt, verſchmähte es aber, ſich derſelben zu bedienen, ſondern ſtieg die außen an der Seite

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/135>, abgerufen am 22.11.2024.