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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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Phantasie des Volkes eine von der Kirche erlaubte Unterhaltung und
einen Ersatz für die verschütteten heimischen Ueberlieferungen bot. Er
las eigentlich nicht, sondern blätterte nur, denn er wußte alle diese
Geschichten auswendig, die in der Predigt und Kinderlehre geistlich
gedeutet wurden, beim unbefangenen Lesen zu Hause aber mit ihren
guten und bösen Beispielen einen ganz natürlichen Eindruck machten.
Da waren Geschichten von Erzvätern, die sich betranken, Kebsweiber
hielten und verstießen, durch Schelmenstreiche reiche Familienhäupter
wurden oder in fremdem Hofdienste sich gegen das Volk zu Finanz¬
künsten hergaben, welche einen Würtemberger sehr an den erst zwölf
Jahre zuvor in Stuttgart gehängten "Jud Süß" erinnern mußten.
Liebliche und heldenmäßige Züge wechselten da mit gar unheiligen:
ein Volk zog aus einem Lande auf das Geheiß seines Führers, der
einen Todtschlag begangen, wie eine Zigeunerbande fort, indem es die
entlehnten silbernen und goldenen Geräthe behielt; ein kühner Hirt
und Räuber, durch treue Freundschaft ewig im Lied zu leben würdig,
stahl als Hauptmann einer Schaar loser Leute seinem König einen
Zipfel des Mantels vom Leibe weg sammt Speer und Becher,
diente als Ueberläufer dem Reichsfeind und mißbrauchte, als er später
daheim die Krone trug, sein königliches Amt zu Lüsternheit und
Meuchelmord, wobei er sich von jenen Erzvätern, wie auch von spä¬
teren Landesvätern, doch wenigstens dadurch unterschied, daß er über
seine That nachher Leid und Reue trug. Bedenkliche und zweifelhafte
Fragen über diese Erzählungen, die beinahe die einzige geistige Speise
des Volkes waren, konnte der junge Mensch, das wußte er wohl,
keiner Seele in seiner Umgebung vorlegen. Hatte doch selbst der
Waisenpfarrer einmal einen leisen Versuch mit den Worten abgewie¬
sen, man müsse nicht gar zu viel grübeln, Gott wähle oft seine eigen¬
thümlichen Wege und Werkzeuge, um seine Plane auszuführen. Am
liebsten aber schlug er die beiden Bücher von den ritterlichen Thaten
der Makkabäer auf und oft mußte er unwillkürlich nach der nahen
Alb hinübersehen, wenn er las wie diese Helden sich in das Gebirge
warfen, um von dort aus die Freiheit und das Gesetz ihres Landes
zu vertheidigen. Eben las er wieder, wie sie beschloßen, sich durch die
Heiligung des Sabbaths nicht vom Kampfe abhalten zu lassen, gleich
ihren Brüdern, die sich wehrlos in der Höhle schlachten ließen, da er¬

Phantaſie des Volkes eine von der Kirche erlaubte Unterhaltung und
einen Erſatz für die verſchütteten heimiſchen Ueberlieferungen bot. Er
las eigentlich nicht, ſondern blätterte nur, denn er wußte alle dieſe
Geſchichten auswendig, die in der Predigt und Kinderlehre geiſtlich
gedeutet wurden, beim unbefangenen Leſen zu Hauſe aber mit ihren
guten und böſen Beiſpielen einen ganz natürlichen Eindruck machten.
Da waren Geſchichten von Erzvätern, die ſich betranken, Kebsweiber
hielten und verſtießen, durch Schelmenſtreiche reiche Familienhäupter
wurden oder in fremdem Hofdienſte ſich gegen das Volk zu Finanz¬
künſten hergaben, welche einen Würtemberger ſehr an den erſt zwölf
Jahre zuvor in Stuttgart gehängten „Jud Süß“ erinnern mußten.
Liebliche und heldenmäßige Züge wechſelten da mit gar unheiligen:
ein Volk zog aus einem Lande auf das Geheiß ſeines Führers, der
einen Todtſchlag begangen, wie eine Zigeunerbande fort, indem es die
entlehnten ſilbernen und goldenen Geräthe behielt; ein kühner Hirt
und Räuber, durch treue Freundſchaft ewig im Lied zu leben würdig,
ſtahl als Hauptmann einer Schaar loſer Leute ſeinem König einen
Zipfel des Mantels vom Leibe weg ſammt Speer und Becher,
diente als Ueberläufer dem Reichsfeind und mißbrauchte, als er ſpäter
daheim die Krone trug, ſein königliches Amt zu Lüſternheit und
Meuchelmord, wobei er ſich von jenen Erzvätern, wie auch von ſpä¬
teren Landesvätern, doch wenigſtens dadurch unterſchied, daß er über
ſeine That nachher Leid und Reue trug. Bedenkliche und zweifelhafte
Fragen über dieſe Erzählungen, die beinahe die einzige geiſtige Speiſe
des Volkes waren, konnte der junge Menſch, das wußte er wohl,
keiner Seele in ſeiner Umgebung vorlegen. Hatte doch ſelbſt der
Waiſenpfarrer einmal einen leiſen Verſuch mit den Worten abgewie¬
ſen, man müſſe nicht gar zu viel grübeln, Gott wähle oft ſeine eigen¬
thümlichen Wege und Werkzeuge, um ſeine Plane auszuführen. Am
liebſten aber ſchlug er die beiden Bücher von den ritterlichen Thaten
der Makkabäer auf und oft mußte er unwillkürlich nach der nahen
Alb hinüberſehen, wenn er las wie dieſe Helden ſich in das Gebirge
warfen, um von dort aus die Freiheit und das Geſetz ihres Landes
zu vertheidigen. Eben las er wieder, wie ſie beſchloßen, ſich durch die
Heiligung des Sabbaths nicht vom Kampfe abhalten zu laſſen, gleich
ihren Brüdern, die ſich wehrlos in der Höhle ſchlachten ließen, da er¬

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[87/0103] Phantaſie des Volkes eine von der Kirche erlaubte Unterhaltung und einen Erſatz für die verſchütteten heimiſchen Ueberlieferungen bot. Er las eigentlich nicht, ſondern blätterte nur, denn er wußte alle dieſe Geſchichten auswendig, die in der Predigt und Kinderlehre geiſtlich gedeutet wurden, beim unbefangenen Leſen zu Hauſe aber mit ihren guten und böſen Beiſpielen einen ganz natürlichen Eindruck machten. Da waren Geſchichten von Erzvätern, die ſich betranken, Kebsweiber hielten und verſtießen, durch Schelmenſtreiche reiche Familienhäupter wurden oder in fremdem Hofdienſte ſich gegen das Volk zu Finanz¬ künſten hergaben, welche einen Würtemberger ſehr an den erſt zwölf Jahre zuvor in Stuttgart gehängten „Jud Süß“ erinnern mußten. Liebliche und heldenmäßige Züge wechſelten da mit gar unheiligen: ein Volk zog aus einem Lande auf das Geheiß ſeines Führers, der einen Todtſchlag begangen, wie eine Zigeunerbande fort, indem es die entlehnten ſilbernen und goldenen Geräthe behielt; ein kühner Hirt und Räuber, durch treue Freundſchaft ewig im Lied zu leben würdig, ſtahl als Hauptmann einer Schaar loſer Leute ſeinem König einen Zipfel des Mantels vom Leibe weg ſammt Speer und Becher, diente als Ueberläufer dem Reichsfeind und mißbrauchte, als er ſpäter daheim die Krone trug, ſein königliches Amt zu Lüſternheit und Meuchelmord, wobei er ſich von jenen Erzvätern, wie auch von ſpä¬ teren Landesvätern, doch wenigſtens dadurch unterſchied, daß er über ſeine That nachher Leid und Reue trug. Bedenkliche und zweifelhafte Fragen über dieſe Erzählungen, die beinahe die einzige geiſtige Speiſe des Volkes waren, konnte der junge Menſch, das wußte er wohl, keiner Seele in ſeiner Umgebung vorlegen. Hatte doch ſelbſt der Waiſenpfarrer einmal einen leiſen Verſuch mit den Worten abgewie¬ ſen, man müſſe nicht gar zu viel grübeln, Gott wähle oft ſeine eigen¬ thümlichen Wege und Werkzeuge, um ſeine Plane auszuführen. Am liebſten aber ſchlug er die beiden Bücher von den ritterlichen Thaten der Makkabäer auf und oft mußte er unwillkürlich nach der nahen Alb hinüberſehen, wenn er las wie dieſe Helden ſich in das Gebirge warfen, um von dort aus die Freiheit und das Geſetz ihres Landes zu vertheidigen. Eben las er wieder, wie ſie beſchloßen, ſich durch die Heiligung des Sabbaths nicht vom Kampfe abhalten zu laſſen, gleich ihren Brüdern, die ſich wehrlos in der Höhle ſchlachten ließen, da er¬

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/103>, abgerufen am 24.11.2024.