ausgestattete Natur in diesem Wesen eine wohnliche Hütte fand, oder, was noch besser, auf gelindem Wege hinausgedrängt wurde. Eine Hütte aber, wohnlich nicht bloß, für den Leib, sondern auch für die Seele, war kaum anderswo zu finden als bei den Pietisten, welche auf einem noch ungebrochenen Glauben fußten, dessen kindliche Kraft noch nicht durch die Ausbreitung der Bildung und Wissenschaft ver¬ loren gegangen war, auf einem Glauben, der ihnen in körperlicher Wirklichkeit vormalte, wie sie dereinst nach der Erlösung aus diesem Thal des Jammers und der Sünde in den Wohnungen der Seligen über dem blauen Himmelsgewölbe mit Kronen auf den Häuptern und in weißen Gewanden einherwandeln würden, der aber in seinen Be¬ ziehungen zum irdischen Leben die dürre streit- und herrschsüchtige Kirchenlehre, mit welcher er nur über das Jenseits einverstanden war, weit hinter sich ließ und eine Liebe und Gleichheit der, Kinder Gottes predigte, woran trotz der Demuth dieser Predigt die Inhaber von Thron und Altar großes Aergerniß nahmen. Allein es war nicht Jedem gegeben, ein Pietist zu werden, und nicht Jeder, dem es gege¬ ben gewesen wäre, hatte das freilich sauer erworbene Glück, sein Leben¬ lang unter den Flügeln eines Mannes wie der Waisenpfarrer im Ludwigsburger Zuchthause geborgen zu sein.
In dieser Verlassenheit und Vernachlässigung mußten alle Rich¬ tungen einer so kräftig angelegten Seele in einen unbezähmbaren Willensdrang verschmelzen, der in seiner dumpfen Ungeduld überall auf eben so dumpfe Hindernisse wie auf Mauern ohne Fenster stieß und ziellos zwischen Antrieben bald des Wohlwollens, bald der Wider¬ spänstigkeit umherirrend, zuletzt an einem einzigen Gegenstande haften blieb, von welchem dieser noch durch den Stachel beleidigter Eitel¬ keit gespornte Wille Befriedigung aller Sehnsucht und Heilung aller Schäden für das ganze Leben forderte. Die Versagung dieses höch¬ sten Wunsches, an den er zumal die besten Vorsätze für sein künftiges Verhalten geknüpft hatte, machte den Jüngling an sich und der Welt verzweifeln, und abermals wollte der wilde Geist über ihn kommen, den er schon so manches Unheil hatte vollbringen lassen.
Das Jahr ging zu Ende. Am letzten Tage saß Friedrich in einer müßigen Stunde am runden Tische in der großen Wirthsstube und las in der Bibel, die mit ihren Heldensagen und Abenteuern der
ausgeſtattete Natur in dieſem Weſen eine wohnliche Hütte fand, oder, was noch beſſer, auf gelindem Wege hinausgedrängt wurde. Eine Hütte aber, wohnlich nicht bloß, für den Leib, ſondern auch für die Seele, war kaum anderswo zu finden als bei den Pietiſten, welche auf einem noch ungebrochenen Glauben fußten, deſſen kindliche Kraft noch nicht durch die Ausbreitung der Bildung und Wiſſenſchaft ver¬ loren gegangen war, auf einem Glauben, der ihnen in körperlicher Wirklichkeit vormalte, wie ſie dereinſt nach der Erlöſung aus dieſem Thal des Jammers und der Sünde in den Wohnungen der Seligen über dem blauen Himmelsgewölbe mit Kronen auf den Häuptern und in weißen Gewanden einherwandeln würden, der aber in ſeinen Be¬ ziehungen zum irdiſchen Leben die dürre ſtreit- und herrſchſüchtige Kirchenlehre, mit welcher er nur über das Jenſeits einverſtanden war, weit hinter ſich ließ und eine Liebe und Gleichheit der, Kinder Gottes predigte, woran trotz der Demuth dieſer Predigt die Inhaber von Thron und Altar großes Aergerniß nahmen. Allein es war nicht Jedem gegeben, ein Pietiſt zu werden, und nicht Jeder, dem es gege¬ ben geweſen wäre, hatte das freilich ſauer erworbene Glück, ſein Leben¬ lang unter den Flügeln eines Mannes wie der Waiſenpfarrer im Ludwigsburger Zuchthauſe geborgen zu ſein.
In dieſer Verlaſſenheit und Vernachläſſigung mußten alle Rich¬ tungen einer ſo kräftig angelegten Seele in einen unbezähmbaren Willensdrang verſchmelzen, der in ſeiner dumpfen Ungeduld überall auf eben ſo dumpfe Hinderniſſe wie auf Mauern ohne Fenſter ſtieß und ziellos zwiſchen Antrieben bald des Wohlwollens, bald der Wider¬ ſpänſtigkeit umherirrend, zuletzt an einem einzigen Gegenſtande haften blieb, von welchem dieſer noch durch den Stachel beleidigter Eitel¬ keit geſpornte Wille Befriedigung aller Sehnſucht und Heilung aller Schäden für das ganze Leben forderte. Die Verſagung dieſes höch¬ ſten Wunſches, an den er zumal die beſten Vorſätze für ſein künftiges Verhalten geknüpft hatte, machte den Jüngling an ſich und der Welt verzweifeln, und abermals wollte der wilde Geiſt über ihn kommen, den er ſchon ſo manches Unheil hatte vollbringen laſſen.
Das Jahr ging zu Ende. Am letzten Tage ſaß Friedrich in einer müßigen Stunde am runden Tiſche in der großen Wirthsſtube und las in der Bibel, die mit ihren Heldenſagen und Abenteuern der
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ausgeſtattete Natur in dieſem Weſen eine wohnliche Hütte fand, oder,
was noch beſſer, auf gelindem Wege hinausgedrängt wurde. Eine
Hütte aber, wohnlich nicht bloß, für den Leib, ſondern auch für die
Seele, war kaum anderswo zu finden als bei den Pietiſten, welche
auf einem noch ungebrochenen Glauben fußten, deſſen kindliche Kraft
noch nicht durch die Ausbreitung der Bildung und Wiſſenſchaft ver¬
loren gegangen war, auf einem Glauben, der ihnen in körperlicher
Wirklichkeit vormalte, wie ſie dereinſt nach der Erlöſung aus dieſem
Thal des Jammers und der Sünde in den Wohnungen der Seligen
über dem blauen Himmelsgewölbe mit Kronen auf den Häuptern und
in weißen Gewanden einherwandeln würden, der aber in ſeinen Be¬
ziehungen zum irdiſchen Leben die dürre ſtreit- und herrſchſüchtige
Kirchenlehre, mit welcher er nur über das Jenſeits einverſtanden war,
weit hinter ſich ließ und eine Liebe und Gleichheit der, Kinder Gottes
predigte, woran trotz der Demuth dieſer Predigt die Inhaber von
Thron und Altar großes Aergerniß nahmen. Allein es war nicht
Jedem gegeben, ein Pietiſt zu werden, und nicht Jeder, dem es gege¬
ben geweſen wäre, hatte das freilich ſauer erworbene Glück, ſein Leben¬
lang unter den Flügeln eines Mannes wie der Waiſenpfarrer im
Ludwigsburger Zuchthauſe geborgen zu ſein.
In dieſer Verlaſſenheit und Vernachläſſigung mußten alle Rich¬
tungen einer ſo kräftig angelegten Seele in einen unbezähmbaren
Willensdrang verſchmelzen, der in ſeiner dumpfen Ungeduld überall
auf eben ſo dumpfe Hinderniſſe wie auf Mauern ohne Fenſter ſtieß
und ziellos zwiſchen Antrieben bald des Wohlwollens, bald der Wider¬
ſpänſtigkeit umherirrend, zuletzt an einem einzigen Gegenſtande haften
blieb, von welchem dieſer noch durch den Stachel beleidigter Eitel¬
keit geſpornte Wille Befriedigung aller Sehnſucht und Heilung aller
Schäden für das ganze Leben forderte. Die Verſagung dieſes höch¬
ſten Wunſches, an den er zumal die beſten Vorſätze für ſein künftiges
Verhalten geknüpft hatte, machte den Jüngling an ſich und der Welt
verzweifeln, und abermals wollte der wilde Geiſt über ihn kommen,
den er ſchon ſo manches Unheil hatte vollbringen laſſen.
Das Jahr ging zu Ende. Am letzten Tage ſaß Friedrich in einer
müßigen Stunde am runden Tiſche in der großen Wirthsſtube und
las in der Bibel, die mit ihren Heldenſagen und Abenteuern der
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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/102>, abgerufen am 24.11.2024.
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