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Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855.

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vor Kälte zitternd stehen, bis die Tritte ihres Vaters und ihrer Brü¬
der, die von einem Geschäft nach Hause kamen, sie vertrieben.

Mit den beiden Letzteren setzte Friedrich den gewohnten Umgang
fort. Wie aber zwischen ihm und ihnen von der Herzensangelegen¬
heit nie gesprochen worden war und selbst die Verabredungen, wonach sie
ihre Schwester da oder dorthin bringen sollten, immer in gleichgiltiger
Form gemacht worden waren, so wurde auch der Störung des Ver¬
hältnisses nicht erwähnt. Nur einmal sagte Friedrich mit deutlicher Be¬
ziehung: Ich merk's eben wohl, man vergißt mir meine Strafen
nicht, man sieht mich für gezeichnet an. Worauf Jene ruhig ant¬
worteten: Wird doch das nicht sein.

Unmuth und Unruhe trieben ihn umher, und auch in ruhigeren
Stunden, wenn dann und wann der Schmerz der vermeintlich ver¬
schmähten Liebe ihn zu quälen abließ, empfand er eine drückende Leere
und das Leben kam ihm schrecklich arm und öde vor. Er fühlte es, ohne
es klar zu erkennen, daß die Menschen um ihn her wie Schatten wa¬
ren, daß Keiner ihm etwas sein konnte, daß Niemand in seiner ganzen
Umgebung seinem wie in der Wildniß und Irre schweifenden Gemüth,
seinem hungernden Geist eine Heimath und Erquickung zu geben
vermögend war. Was er aber hell bewußt in sich trug, war eine
maßlose rebellische Bitterkeit darüber, daß er statt ins Ehebett in die
Kinderlehre wandern sollte. Einen grausameren Hohn über seine
verunglückte Bewerbung meinte er sich nicht erdenken zu können. Dazu
fühlte er sich nicht bloß alt genug und den Kinderschuhen entwachsen,
um vom Leben noch eine andere Schule zu verlangen, als die Ein¬
trichterung von Bibelsprüchen und Gesangbuchversen, sondern er hatte
auch diese Sprüche und Verse sammt der ganzen Schulbildung, worin
er selbst Höhergestellten wenig oder nicht nachstand, so vollkommen
inne, daß die Wiederholung des Unterrichts ihn nicht einmal in diesem
Fache mehr fördern konnte. Für die Bildung seines "innern Men¬
schen" aber, woran die Religionsschule, die diesen Ausdruck gern ge¬
brauchte, sich hätte erproben lassen können, war das bürgerliche
und gesellschaftliche Leben, in dessen Schoße er sich tummelte, so in¬
haltsleer und so sehr in die blinde Unterwerfung unter eine gewissen¬
los schwelgende "Herrschaft" hineingepredigt, daß es zu den Glücks¬
fällen gerechnet werden mußte, wenn eine über das gewöhnliche Maß

vor Kälte zitternd ſtehen, bis die Tritte ihres Vaters und ihrer Brü¬
der, die von einem Geſchäft nach Hauſe kamen, ſie vertrieben.

Mit den beiden Letzteren ſetzte Friedrich den gewohnten Umgang
fort. Wie aber zwiſchen ihm und ihnen von der Herzensangelegen¬
heit nie geſprochen worden war und ſelbſt die Verabredungen, wonach ſie
ihre Schweſter da oder dorthin bringen ſollten, immer in gleichgiltiger
Form gemacht worden waren, ſo wurde auch der Störung des Ver¬
hältniſſes nicht erwähnt. Nur einmal ſagte Friedrich mit deutlicher Be¬
ziehung: Ich merk's eben wohl, man vergißt mir meine Strafen
nicht, man ſieht mich für gezeichnet an. Worauf Jene ruhig ant¬
worteten: Wird doch das nicht ſein.

Unmuth und Unruhe trieben ihn umher, und auch in ruhigeren
Stunden, wenn dann und wann der Schmerz der vermeintlich ver¬
ſchmähten Liebe ihn zu quälen abließ, empfand er eine drückende Leere
und das Leben kam ihm ſchrecklich arm und öde vor. Er fühlte es, ohne
es klar zu erkennen, daß die Menſchen um ihn her wie Schatten wa¬
ren, daß Keiner ihm etwas ſein konnte, daß Niemand in ſeiner ganzen
Umgebung ſeinem wie in der Wildniß und Irre ſchweifenden Gemüth,
ſeinem hungernden Geiſt eine Heimath und Erquickung zu geben
vermögend war. Was er aber hell bewußt in ſich trug, war eine
maßloſe rebelliſche Bitterkeit darüber, daß er ſtatt ins Ehebett in die
Kinderlehre wandern ſollte. Einen grauſameren Hohn über ſeine
verunglückte Bewerbung meinte er ſich nicht erdenken zu können. Dazu
fühlte er ſich nicht bloß alt genug und den Kinderſchuhen entwachſen,
um vom Leben noch eine andere Schule zu verlangen, als die Ein¬
trichterung von Bibelſprüchen und Geſangbuchverſen, ſondern er hatte
auch dieſe Sprüche und Verſe ſammt der ganzen Schulbildung, worin
er ſelbſt Höhergeſtellten wenig oder nicht nachſtand, ſo vollkommen
inne, daß die Wiederholung des Unterrichts ihn nicht einmal in dieſem
Fache mehr fördern konnte. Für die Bildung ſeines „innern Men¬
ſchen“ aber, woran die Religionsſchule, die dieſen Ausdruck gern ge¬
brauchte, ſich hätte erproben laſſen können, war das bürgerliche
und geſellſchaftliche Leben, in deſſen Schoße er ſich tummelte, ſo in¬
haltsleer und ſo ſehr in die blinde Unterwerfung unter eine gewiſſen¬
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[85/0101] vor Kälte zitternd ſtehen, bis die Tritte ihres Vaters und ihrer Brü¬ der, die von einem Geſchäft nach Hauſe kamen, ſie vertrieben. Mit den beiden Letzteren ſetzte Friedrich den gewohnten Umgang fort. Wie aber zwiſchen ihm und ihnen von der Herzensangelegen¬ heit nie geſprochen worden war und ſelbſt die Verabredungen, wonach ſie ihre Schweſter da oder dorthin bringen ſollten, immer in gleichgiltiger Form gemacht worden waren, ſo wurde auch der Störung des Ver¬ hältniſſes nicht erwähnt. Nur einmal ſagte Friedrich mit deutlicher Be¬ ziehung: Ich merk's eben wohl, man vergißt mir meine Strafen nicht, man ſieht mich für gezeichnet an. Worauf Jene ruhig ant¬ worteten: Wird doch das nicht ſein. Unmuth und Unruhe trieben ihn umher, und auch in ruhigeren Stunden, wenn dann und wann der Schmerz der vermeintlich ver¬ ſchmähten Liebe ihn zu quälen abließ, empfand er eine drückende Leere und das Leben kam ihm ſchrecklich arm und öde vor. Er fühlte es, ohne es klar zu erkennen, daß die Menſchen um ihn her wie Schatten wa¬ ren, daß Keiner ihm etwas ſein konnte, daß Niemand in ſeiner ganzen Umgebung ſeinem wie in der Wildniß und Irre ſchweifenden Gemüth, ſeinem hungernden Geiſt eine Heimath und Erquickung zu geben vermögend war. Was er aber hell bewußt in ſich trug, war eine maßloſe rebelliſche Bitterkeit darüber, daß er ſtatt ins Ehebett in die Kinderlehre wandern ſollte. Einen grauſameren Hohn über ſeine verunglückte Bewerbung meinte er ſich nicht erdenken zu können. Dazu fühlte er ſich nicht bloß alt genug und den Kinderſchuhen entwachſen, um vom Leben noch eine andere Schule zu verlangen, als die Ein¬ trichterung von Bibelſprüchen und Geſangbuchverſen, ſondern er hatte auch dieſe Sprüche und Verſe ſammt der ganzen Schulbildung, worin er ſelbſt Höhergeſtellten wenig oder nicht nachſtand, ſo vollkommen inne, daß die Wiederholung des Unterrichts ihn nicht einmal in dieſem Fache mehr fördern konnte. Für die Bildung ſeines „innern Men¬ ſchen“ aber, woran die Religionsſchule, die dieſen Ausdruck gern ge¬ brauchte, ſich hätte erproben laſſen können, war das bürgerliche und geſellſchaftliche Leben, in deſſen Schoße er ſich tummelte, ſo in¬ haltsleer und ſo ſehr in die blinde Unterwerfung unter eine gewiſſen¬ los ſchwelgende „Herrſchaft“ hineingepredigt, daß es zu den Glücks¬ fällen gerechnet werden mußte, wenn eine über das gewöhnliche Maß

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Zitationshilfe: Kurz, Hermann: Der Sonnenwirth. Frankfurt (Main), 1855, S. 85. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kurz_sonnenwirth_1855/101>, abgerufen am 03.05.2024.