das den bürgerlichen Athmungsprozeß in normalen, gesunden Schwin¬ gungen vollzieht. Mit dieser Erwartung betrat ich Harrisburg. Harris¬ burg ist in jeder Hinsicht ein reinerer Sitz des amerikanischen Deutsch¬ thums als Philadelphia. Unsere Kinder sollen nicht englische Affen werden, sagten die deutschen Ansiedler Pennsylvaniens, welche mit einem Grundstock guter protestantischer Bildung herüberkamen, deutsche Schulen anlegten, deutsche Lehrer und Pastoren mitbrachten und sie noch lange, oft mit großer Aufopferung, aus Deutschland, namentlich aus Halle, der damaligen Metropole deutsch-theologischer Gelehrsam¬ keit, verschrieben. Wohlan, die Söhne und Enkel dieser Rektoren, dieser Pastoren, dieser Offiziere aus Washington's Armee, dieser bra¬ ven, bildungsfähigen Pennsylvania-Bauern bilden den Grundstock der hiesigen Bevölkerung. Ihr altes Vater-Erbe hat seitdem zehn- und hundertfachen Bodenwerth erreicht, das Bauerngut rentirt längst als Ritter¬ gut, oder es ist vortheilhaft verkauft -- kurz, diese ganze Gesellschafts¬ klasse ist aus dem bäuerlichen in den bürgerlichen Rang vorgerückt: sie ist der Stadtkern von Harrisburg. Aber wie sieht sie aus, diese deutsch-amerikanische "Gentry", die es mindestens sein könnte in so gutem Sinne wie die englische? Ihr Wohlstand ist gewachsen, ihre Bildung nicht. Sie hat zu streben aufgehört, genau auf jener Stufe, wo die Noth und der Kampf um die Existenz aufgehört hat. Ich habe Häuser von Reichthum und gesellschaftlichem Rang betreten, aber ihre Bibliotheken waren nicht hinaus über den hundertjährigen Kalender, Doktor Faust's Höllenzwang, Theoprastus Paracelsus, Jacob Böhme und Burkard Waldis. Das neueste deutsche Buch, das ich in Harrisburg fand, waren Gellert's Fabeln. Von den bessern deutschen Charakterzügen pflegen sie nur noch den Hang für Gartenkunst; von der anglo-amerikanischen Race haben sie den sport für Pferde ange¬ nommen, die aber bei allzu reichlicher Fütterung mehr dick als schön werden. Das ist Alles. Eine sanfte, unschuldige Ehe der National- Liebhabereien, kein Durchdringen des National-Geistes mit großen, produktiven Resultaten, keine Kreuzung des Besten und Edel¬ sten von deutsch und amerikanisch zu einem neuen Menschheits-Adel, wie wir es als möglich -- träumten!
Diese Mischung von Nationalitäten, eher zu einem Zerrbilde, als zu einem Ideale, finde ich wie in einem Spiegel in dem Sprach¬
das den bürgerlichen Athmungsprozeß in normalen, geſunden Schwin¬ gungen vollzieht. Mit dieſer Erwartung betrat ich Harrisburg. Harris¬ burg iſt in jeder Hinſicht ein reinerer Sitz des amerikaniſchen Deutſch¬ thums als Philadelphia. Unſere Kinder ſollen nicht engliſche Affen werden, ſagten die deutſchen Anſiedler Pennſylvaniens, welche mit einem Grundſtock guter proteſtantiſcher Bildung herüberkamen, deutſche Schulen anlegten, deutſche Lehrer und Paſtoren mitbrachten und ſie noch lange, oft mit großer Aufopferung, aus Deutſchland, namentlich aus Halle, der damaligen Metropole deutſch-theologiſcher Gelehrſam¬ keit, verſchrieben. Wohlan, die Söhne und Enkel dieſer Rektoren, dieſer Paſtoren, dieſer Offiziere aus Waſhington's Armee, dieſer bra¬ ven, bildungsfähigen Pennſylvania-Bauern bilden den Grundſtock der hieſigen Bevölkerung. Ihr altes Vater-Erbe hat ſeitdem zehn- und hundertfachen Bodenwerth erreicht, das Bauerngut rentirt längſt als Ritter¬ gut, oder es iſt vortheilhaft verkauft — kurz, dieſe ganze Geſellſchafts¬ klaſſe iſt aus dem bäuerlichen in den bürgerlichen Rang vorgerückt: ſie iſt der Stadtkern von Harrisburg. Aber wie ſieht ſie aus, dieſe deutſch-amerikaniſche „Gentry“, die es mindeſtens ſein könnte in ſo gutem Sinne wie die engliſche? Ihr Wohlſtand iſt gewachſen, ihre Bildung nicht. Sie hat zu ſtreben aufgehört, genau auf jener Stufe, wo die Noth und der Kampf um die Exiſtenz aufgehört hat. Ich habe Häuſer von Reichthum und geſellſchaftlichem Rang betreten, aber ihre Bibliotheken waren nicht hinaus über den hundertjährigen Kalender, Doktor Fauſt's Höllenzwang, Theopraſtus Paracelſus, Jacob Böhme und Burkard Waldis. Das neueſte deutſche Buch, das ich in Harrisburg fand, waren Gellert's Fabeln. Von den beſſern deutſchen Charakterzügen pflegen ſie nur noch den Hang für Gartenkunſt; von der anglo-amerikaniſchen Race haben ſie den sport für Pferde ange¬ nommen, die aber bei allzu reichlicher Fütterung mehr dick als ſchön werden. Das iſt Alles. Eine ſanfte, unſchuldige Ehe der National- Liebhabereien, kein Durchdringen des National-Geiſtes mit großen, produktiven Reſultaten, keine Kreuzung des Beſten und Edel¬ ſten von deutſch und amerikaniſch zu einem neuen Menſchheits-Adel, wie wir es als möglich — träumten!
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thums als Philadelphia. Unſere Kinder ſollen nicht engliſche Affen
werden, ſagten die deutſchen Anſiedler Pennſylvaniens, welche mit
einem Grundſtock guter proteſtantiſcher Bildung herüberkamen, deutſche
Schulen anlegten, deutſche Lehrer und Paſtoren mitbrachten und ſie
noch lange, oft mit großer Aufopferung, aus Deutſchland, namentlich
aus Halle, der damaligen Metropole deutſch-theologiſcher Gelehrſam¬
keit, verſchrieben. Wohlan, die Söhne und Enkel dieſer Rektoren,
dieſer Paſtoren, dieſer Offiziere aus Waſhington's Armee, dieſer bra¬
ven, bildungsfähigen Pennſylvania-Bauern bilden den Grundſtock der
hieſigen Bevölkerung. Ihr altes Vater-Erbe hat ſeitdem zehn- und
hundertfachen Bodenwerth erreicht, das Bauerngut rentirt längſt als Ritter¬
gut, oder es iſt vortheilhaft verkauft — kurz, dieſe ganze Geſellſchafts¬
klaſſe iſt aus dem bäuerlichen in den bürgerlichen Rang vorgerückt: ſie
iſt der Stadtkern von Harrisburg. Aber wie ſieht ſie aus, dieſe
deutſch-amerikaniſche „Gentry“, die es mindeſtens ſein könnte in ſo
gutem Sinne wie die engliſche? Ihr Wohlſtand iſt gewachſen, ihre
Bildung nicht. Sie hat zu ſtreben aufgehört, genau auf jener
Stufe, wo die Noth und der Kampf um die Exiſtenz aufgehört hat.
Ich habe Häuſer von Reichthum und geſellſchaftlichem Rang betreten,
aber ihre Bibliotheken waren nicht hinaus über den hundertjährigen
Kalender, Doktor Fauſt's Höllenzwang, Theopraſtus Paracelſus, Jacob
Böhme und Burkard Waldis. Das neueſte deutſche Buch, das ich in
Harrisburg fand, waren Gellert's Fabeln. Von den beſſern deutſchen
Charakterzügen pflegen ſie nur noch den Hang für Gartenkunſt; von
der anglo-amerikaniſchen Race haben ſie den sport für Pferde ange¬
nommen, die aber bei allzu reichlicher Fütterung mehr dick als ſchön
werden. Das iſt Alles. Eine ſanfte, unſchuldige Ehe der National-
Liebhabereien, kein Durchdringen des National-Geiſtes mit
großen, produktiven Reſultaten, keine Kreuzung des Beſten und Edel¬
ſten von deutſch und amerikaniſch zu einem neuen Menſchheits-Adel,
wie wir es als möglich — träumten!
Dieſe Miſchung von Nationalitäten, eher zu einem Zerrbilde, als
zu einem Ideale, finde ich wie in einem Spiegel in dem Sprach¬
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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/297>, abgerufen am 22.11.2024.
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