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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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diesen zarten Spiegel der Volkssouverainetät bereits nach Herzenslust
schalten und walten. Wo sich Trotz, Muthwillen, Starrsinn und Hang
zur Widersetzlichkeit kund gibt, wird sie mit Freude begrüßt, als ein
Zeichen künftiger Mannestüchtigkeit. Die Kinder üben vollkommene
Ueberlegenheit gegen ihre Eltern. In die erste Schule kommen sie
schon als unbeugsame Republikaner-Gamins, und die Lust, nach ihren
Einfällen ihre Kraft zu versuchen, wächst mit jedem Tage. Sie lernen
bereits nach ihrem Tadler mit Pistolen schießen, und schieben das erste
Primchen Kautabak in den verschlemmten Süßmund. Auch betrinken
sie sich. Mit dem zwölften Jahre wird der Knabe in die höhere
Schule geschickt, er denkt aber wenig mehr an Schulen, sondern an Dinge,
welche die Natur sonst nur auf die Gedankenbahn bringt, wenn der
Bart keimt. Sein Griechisch und Latein, seine Physik und Mathe¬
matik und endlich jene banausische Mischung von Denk- und Naturge¬
setzen, Sittenlehren und Geschichts-Anekdoten, welche man Philo¬
sophie nennt -- das Alles nimmt ihm nur vier, oft nur zwei Jahre
weg. Von einer tieferen classischen Bildung, welche dem Jüngling
die geistigen Besitzthümer der Menschheit alter und neuer Zeit über¬
mittelte, welche ebenmäßig seine Seele ausbildete und ihm ein- für
allemale die Gerechtigkeit und die Schönheit, statt die Nützlichkeit zum
Lebensprinzip machte -- von einer solchen Bildung ist in unsern Schulen
nicht die Rede. Es wird schnell und oberflächlich viel gelernt, der Unter¬
richt in der Weltgeschichte fällt so gut wie gänzlich weg. Kann der Knabe
nur die Aeußerlichkeit, die Handgriffe einer Sprache oder Wissenschaft
zur Schau tragen, so ist man sehr zufrieden. Bei den öffentlichen Prü¬
fungen ein Stück her zu übersetzen, darauf allein steuert man los; gerade
so wie der Musiklehrer am Besten fährt, der statt das Verständniß
eines mehrstimmigen Tonsatzes zu lehren, viele neue und melodische
Musikstückchen einfingern läßt. So werden die Klassen durchlaufen,
die Zeugnisse darüber in die Tasche gesteckt, die Schule ist abgethan.
Der junge Mann, denn Mann ist er nunmehr, und hätte er auch das
sechszehnte Jahr nicht zurückgelegt -- der junge Mann schlendert hierauf
eine gute Weile frei und müssig umher und nennt das, die Welt kennen
lernen. Diese Welt sind die Promenaden, die Austernkeller, die Kegel¬
bahnen, die Theater, die Matrosenkneipen und -- die dritte Avenüe!
Aeußerst zufrieden mit sich selbst, sieht man ihn durch die Straßen

dieſen zarten Spiegel der Volksſouverainetät bereits nach Herzensluſt
ſchalten und walten. Wo ſich Trotz, Muthwillen, Starrſinn und Hang
zur Widerſetzlichkeit kund gibt, wird ſie mit Freude begrüßt, als ein
Zeichen künftiger Mannestüchtigkeit. Die Kinder üben vollkommene
Ueberlegenheit gegen ihre Eltern. In die erſte Schule kommen ſie
ſchon als unbeugſame Republikaner-Gamins, und die Luſt, nach ihren
Einfällen ihre Kraft zu verſuchen, wächſt mit jedem Tage. Sie lernen
bereits nach ihrem Tadler mit Piſtolen ſchießen, und ſchieben das erſte
Primchen Kautabak in den verſchlemmten Süßmund. Auch betrinken
ſie ſich. Mit dem zwölften Jahre wird der Knabe in die höhere
Schule geſchickt, er denkt aber wenig mehr an Schulen, ſondern an Dinge,
welche die Natur ſonſt nur auf die Gedankenbahn bringt, wenn der
Bart keimt. Sein Griechiſch und Latein, ſeine Phyſik und Mathe¬
matik und endlich jene banauſiſche Miſchung von Denk- und Naturge¬
ſetzen, Sittenlehren und Geſchichts-Anekdoten, welche man Philo¬
ſophie nennt — das Alles nimmt ihm nur vier, oft nur zwei Jahre
weg. Von einer tieferen claſſiſchen Bildung, welche dem Jüngling
die geiſtigen Beſitzthümer der Menſchheit alter und neuer Zeit über¬
mittelte, welche ebenmäßig ſeine Seele ausbildete und ihm ein- für
allemale die Gerechtigkeit und die Schönheit, ſtatt die Nützlichkeit zum
Lebensprinzip machte — von einer ſolchen Bildung iſt in unſern Schulen
nicht die Rede. Es wird ſchnell und oberflächlich viel gelernt, der Unter¬
richt in der Weltgeſchichte fällt ſo gut wie gänzlich weg. Kann der Knabe
nur die Aeußerlichkeit, die Handgriffe einer Sprache oder Wiſſenſchaft
zur Schau tragen, ſo iſt man ſehr zufrieden. Bei den öffentlichen Prü¬
fungen ein Stück her zu überſetzen, darauf allein ſteuert man los; gerade
ſo wie der Muſiklehrer am Beſten fährt, der ſtatt das Verſtändniß
eines mehrſtimmigen Tonſatzes zu lehren, viele neue und melodiſche
Muſikſtückchen einfingern läßt. So werden die Klaſſen durchlaufen,
die Zeugniſſe darüber in die Taſche geſteckt, die Schule iſt abgethan.
Der junge Mann, denn Mann iſt er nunmehr, und hätte er auch das
ſechszehnte Jahr nicht zurückgelegt — der junge Mann ſchlendert hierauf
eine gute Weile frei und müſſig umher und nennt das, die Welt kennen
lernen. Dieſe Welt ſind die Promenaden, die Auſternkeller, die Kegel¬
bahnen, die Theater, die Matroſenkneipen und — die dritte Avenüe!
Aeußerſt zufrieden mit ſich ſelbſt, ſieht man ihn durch die Straßen

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[216/0234] dieſen zarten Spiegel der Volksſouverainetät bereits nach Herzensluſt ſchalten und walten. Wo ſich Trotz, Muthwillen, Starrſinn und Hang zur Widerſetzlichkeit kund gibt, wird ſie mit Freude begrüßt, als ein Zeichen künftiger Mannestüchtigkeit. Die Kinder üben vollkommene Ueberlegenheit gegen ihre Eltern. In die erſte Schule kommen ſie ſchon als unbeugſame Republikaner-Gamins, und die Luſt, nach ihren Einfällen ihre Kraft zu verſuchen, wächſt mit jedem Tage. Sie lernen bereits nach ihrem Tadler mit Piſtolen ſchießen, und ſchieben das erſte Primchen Kautabak in den verſchlemmten Süßmund. Auch betrinken ſie ſich. Mit dem zwölften Jahre wird der Knabe in die höhere Schule geſchickt, er denkt aber wenig mehr an Schulen, ſondern an Dinge, welche die Natur ſonſt nur auf die Gedankenbahn bringt, wenn der Bart keimt. Sein Griechiſch und Latein, ſeine Phyſik und Mathe¬ matik und endlich jene banauſiſche Miſchung von Denk- und Naturge¬ ſetzen, Sittenlehren und Geſchichts-Anekdoten, welche man Philo¬ ſophie nennt — das Alles nimmt ihm nur vier, oft nur zwei Jahre weg. Von einer tieferen claſſiſchen Bildung, welche dem Jüngling die geiſtigen Beſitzthümer der Menſchheit alter und neuer Zeit über¬ mittelte, welche ebenmäßig ſeine Seele ausbildete und ihm ein- für allemale die Gerechtigkeit und die Schönheit, ſtatt die Nützlichkeit zum Lebensprinzip machte — von einer ſolchen Bildung iſt in unſern Schulen nicht die Rede. Es wird ſchnell und oberflächlich viel gelernt, der Unter¬ richt in der Weltgeſchichte fällt ſo gut wie gänzlich weg. Kann der Knabe nur die Aeußerlichkeit, die Handgriffe einer Sprache oder Wiſſenſchaft zur Schau tragen, ſo iſt man ſehr zufrieden. Bei den öffentlichen Prü¬ fungen ein Stück her zu überſetzen, darauf allein ſteuert man los; gerade ſo wie der Muſiklehrer am Beſten fährt, der ſtatt das Verſtändniß eines mehrſtimmigen Tonſatzes zu lehren, viele neue und melodiſche Muſikſtückchen einfingern läßt. So werden die Klaſſen durchlaufen, die Zeugniſſe darüber in die Taſche geſteckt, die Schule iſt abgethan. Der junge Mann, denn Mann iſt er nunmehr, und hätte er auch das ſechszehnte Jahr nicht zurückgelegt — der junge Mann ſchlendert hierauf eine gute Weile frei und müſſig umher und nennt das, die Welt kennen lernen. Dieſe Welt ſind die Promenaden, die Auſternkeller, die Kegel¬ bahnen, die Theater, die Matroſenkneipen und — die dritte Avenüe! Aeußerſt zufrieden mit ſich ſelbſt, ſieht man ihn durch die Straßen

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 216. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/234>, abgerufen am 22.11.2024.