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Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

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gegenseitig einander aus: es war als ob man sich die Löwenhaut ver¬
schoben hätte und das Eselsohr durchgucken ließe. Andere erkannten
dann in dieser kleinen Zerstreuung wieder einen neuen Toiletteneffect,
wie der junge Heine, und gingen auf absichtliche Verschiebungen und
Entblößungen aus, um jenes ironische Gelächter häufiger zu erregen.
Wieder Andere wären dagegen am liebsten in ihrer natürlichen Stürmer-
und Drängerhaut einhergegangen, aber die Mode war stärker als ihre
Courage, sie entstellten sich wie Hölderlin mit einer griechischen, oder wie
Heinrich von Kleist mit einer romantischen Fremdartigkeit und verdarben
die wahre Dissonanz mit einer falschen. So wurde überall der Lüge kein
Ende. In diesem Zustande fand ich unsre poetische Literatur, als ich
zum Bewußtsein derselben erwachte, und darum sagte ich: sie drückte
nicht aus, was sie wollte und sollte.

Ich floh. Sollte ich meinen Beruf erfüllen: eine moderne In¬
dividualität rein auszudrücken -- so mußte ich das manierirte Deutschland
fliehen, wie Byron das verrottete England. Warum ich eben nach
Amerika floh, das allein bliebe mir zu erklären noch übrig.

Es ist hier von den ernstesten Interessen der Menschheit die Rede.
Sie dulden keine Frivolität, keine Uebereilung. Man erschießt sich
nicht, weil es hübsch knallt und ein wenig Lärm macht. Lotte kommt
darum kein einzigmal weniger in die Wochen, es macht keinen blei¬
benden Eindruck. Unsterblich wird man nicht damit. Unsterblich ist
nur das Leben, nicht der Tod. Das erkannten Schiller und Goethe,
als sie die Partei des Todes verließen, und sich für's Leben erklärten.
Ihr ewiges Verdienst bleibt es, daß sie mit Ernst und Würde nach
dem suchten, was wir heute Weltordnung nennen. Die Beschränktheit
ihres Zeitalters bleibt es, daß sie die Weltordnung nur im Reiche
des Gedankens zu finden vermochten, daß sie auf eine absolute Tren¬
nung von Kunst und Leben antrugen, und die Wirklichkeit preisgaben
zu Gunsten "des schönen Scheins". Aber wenn wir ihren Fund
nicht annehmen dürfen, so müssen wir doch von ihnen lernen zu su¬
chen
. Diese Pflicht bleibt uns. Und wer möchte verkennen, wie sie sehr
uns heute erleichtert ist, wie das Gebiet unsers Suchens heute ein
weiteres ist? Wenn die Lenze, die Hölderlin's, die Stürmer und Dränger
alten Styls am Leben verzweifelten, so war es das Leben ihres Schilda's
mit der Thorsperre um acht, mit dem barschen Bürgermeister und dem

gegenſeitig einander aus: es war als ob man ſich die Löwenhaut ver¬
ſchoben hätte und das Eſelsohr durchgucken ließe. Andere erkannten
dann in dieſer kleinen Zerſtreuung wieder einen neuen Toiletteneffect,
wie der junge Heine, und gingen auf abſichtliche Verſchiebungen und
Entblößungen aus, um jenes ironiſche Gelächter häufiger zu erregen.
Wieder Andere wären dagegen am liebſten in ihrer natürlichen Stürmer-
und Drängerhaut einhergegangen, aber die Mode war ſtärker als ihre
Courage, ſie entſtellten ſich wie Hölderlin mit einer griechiſchen, oder wie
Heinrich von Kleiſt mit einer romantiſchen Fremdartigkeit und verdarben
die wahre Diſſonanz mit einer falſchen. So wurde überall der Lüge kein
Ende. In dieſem Zuſtande fand ich unſre poetiſche Literatur, als ich
zum Bewußtſein derſelben erwachte, und darum ſagte ich: ſie drückte
nicht aus, was ſie wollte und ſollte.

Ich floh. Sollte ich meinen Beruf erfüllen: eine moderne In¬
dividualität rein auszudrücken — ſo mußte ich das manierirte Deutſchland
fliehen, wie Byron das verrottete England. Warum ich eben nach
Amerika floh, das allein bliebe mir zu erklären noch übrig.

Es iſt hier von den ernſteſten Intereſſen der Menſchheit die Rede.
Sie dulden keine Frivolität, keine Uebereilung. Man erſchießt ſich
nicht, weil es hübſch knallt und ein wenig Lärm macht. Lotte kommt
darum kein einzigmal weniger in die Wochen, es macht keinen blei¬
benden Eindruck. Unſterblich wird man nicht damit. Unſterblich iſt
nur das Leben, nicht der Tod. Das erkannten Schiller und Goethe,
als ſie die Partei des Todes verließen, und ſich für's Leben erklärten.
Ihr ewiges Verdienſt bleibt es, daß ſie mit Ernſt und Würde nach
dem ſuchten, was wir heute Weltordnung nennen. Die Beſchränktheit
ihres Zeitalters bleibt es, daß ſie die Weltordnung nur im Reiche
des Gedankens zu finden vermochten, daß ſie auf eine abſolute Tren¬
nung von Kunſt und Leben antrugen, und die Wirklichkeit preisgaben
zu Gunſten „des ſchönen Scheins“. Aber wenn wir ihren Fund
nicht annehmen dürfen, ſo müſſen wir doch von ihnen lernen zu ſu¬
chen
. Dieſe Pflicht bleibt uns. Und wer möchte verkennen, wie ſie ſehr
uns heute erleichtert iſt, wie das Gebiet unſers Suchens heute ein
weiteres iſt? Wenn die Lenze, die Hölderlin's, die Stürmer und Dränger
alten Styls am Leben verzweifelten, ſo war es das Leben ihres Schilda's
mit der Thorſperre um acht, mit dem barſchen Bürgermeiſter und dem

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[149/0167] gegenſeitig einander aus: es war als ob man ſich die Löwenhaut ver¬ ſchoben hätte und das Eſelsohr durchgucken ließe. Andere erkannten dann in dieſer kleinen Zerſtreuung wieder einen neuen Toiletteneffect, wie der junge Heine, und gingen auf abſichtliche Verſchiebungen und Entblößungen aus, um jenes ironiſche Gelächter häufiger zu erregen. Wieder Andere wären dagegen am liebſten in ihrer natürlichen Stürmer- und Drängerhaut einhergegangen, aber die Mode war ſtärker als ihre Courage, ſie entſtellten ſich wie Hölderlin mit einer griechiſchen, oder wie Heinrich von Kleiſt mit einer romantiſchen Fremdartigkeit und verdarben die wahre Diſſonanz mit einer falſchen. So wurde überall der Lüge kein Ende. In dieſem Zuſtande fand ich unſre poetiſche Literatur, als ich zum Bewußtſein derſelben erwachte, und darum ſagte ich: ſie drückte nicht aus, was ſie wollte und ſollte. Ich floh. Sollte ich meinen Beruf erfüllen: eine moderne In¬ dividualität rein auszudrücken — ſo mußte ich das manierirte Deutſchland fliehen, wie Byron das verrottete England. Warum ich eben nach Amerika floh, das allein bliebe mir zu erklären noch übrig. Es iſt hier von den ernſteſten Intereſſen der Menſchheit die Rede. Sie dulden keine Frivolität, keine Uebereilung. Man erſchießt ſich nicht, weil es hübſch knallt und ein wenig Lärm macht. Lotte kommt darum kein einzigmal weniger in die Wochen, es macht keinen blei¬ benden Eindruck. Unſterblich wird man nicht damit. Unſterblich iſt nur das Leben, nicht der Tod. Das erkannten Schiller und Goethe, als ſie die Partei des Todes verließen, und ſich für's Leben erklärten. Ihr ewiges Verdienſt bleibt es, daß ſie mit Ernſt und Würde nach dem ſuchten, was wir heute Weltordnung nennen. Die Beſchränktheit ihres Zeitalters bleibt es, daß ſie die Weltordnung nur im Reiche des Gedankens zu finden vermochten, daß ſie auf eine abſolute Tren¬ nung von Kunſt und Leben antrugen, und die Wirklichkeit preisgaben zu Gunſten „des ſchönen Scheins“. Aber wenn wir ihren Fund nicht annehmen dürfen, ſo müſſen wir doch von ihnen lernen zu ſu¬ chen. Dieſe Pflicht bleibt uns. Und wer möchte verkennen, wie ſie ſehr uns heute erleichtert iſt, wie das Gebiet unſers Suchens heute ein weiteres iſt? Wenn die Lenze, die Hölderlin's, die Stürmer und Dränger alten Styls am Leben verzweifelten, ſo war es das Leben ihres Schilda's mit der Thorſperre um acht, mit dem barſchen Bürgermeiſter und dem

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Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/167>, abgerufen am 27.04.2024.