Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

versöhnt, in seinen thierisch-göttlich-menschlichen Widersprüchen so har¬
monisch gelöst, der Glaube so stark, das Wissen so weit, die Erde so
himmlisch geworden, daß uns der Zustand von Sturm und Drang
nicht länger mehr zukäme? Ich dächte! Als ob Faust nicht ein
dissonirendes Fragment wäre! Als ob Wilhelm Meister nicht dadurch
um die Pistole herumkäme, daß die gesammte Weiblichkeit weniger
pretiös vor ihm thut, als vor Werther's armen lechzenden Sinnen!
Eigentlich hätte er sich aus entgegengesetzten Gründen erschießen müssen.
Das Problem der erfüllten Sinnlichkeit und Sittlichkeit ist auch in
ihm nicht gelöst, denn Mignon stirbt und ist eine Abnormität. Kurz,
das Weimarer Ministerial Rescript, mit seiner griechischen Contra¬
signatur, war eben eine Regierungsmaßregel, wie die meisten andern:
sie drang nicht in's Volk, sie war ein Willküract des Einzelnen. Und
als die Olympier mit ihrer erkünstelten Griechen-Harmonie schon längst
Ruhe und Ordnung gestiftet zu haben glaubten, -- siehe, da schlägt
uns das unterdrückte Feuer auf einmal in einem englischen Lord zu
Tage und wir hören das alte markzerreißende Pan-Geschrei aus
Werther's brünstigsten Tagen. Nichts ist abgeschlossen seit Werther,
gar nichts; höchstens die Lotten heißen anders. Die Freiheit und die
Nothwendigkeit, das subjective Recht und die objective Pflicht kämpfen
mit einander nach wie vor. Unsre Religion, unser Staat, oder der
Weimarer reflectirtes Griechenthum haben die Ausgleichungsformel noch
nicht gefunden.

Die Weimarer haben die Sturm- und Drang-Periode nicht abge¬
schlossen, sondern blos unterbrochen und verwirrt. Als sie von Werther
und Karl Moor abfielen, fielen sie vom ganzen modernen Weltalter ab.
Sie legten den Inhalt der Poesie aus der Individualität wieder in
die Nationalität zurück; allerdings griffen sie nach der schönsten Na¬
tionalität -- nach der griechischen. Aber es war immer eine will¬
kürliche Wahl und Andere konnten anders wählen. Das thaten denn
auch die Romantiker. Sie führten die Poesie in die indische, skandi¬
navische, germanische, romanische, überhaupt in sämmtliche Nationali¬
täten der Welt. Natürlich behauptet das Herz sein Recht und selbst
Münchhausen wird manchmal die Wahrheit sagen. So verrieth sich
im nationalen Costüm gelegentlich das individuelle Herz. Aber sonder¬
bar! bei solchen Gelegenheiten lachte man sich entweder selbst oder

verſöhnt, in ſeinen thieriſch-göttlich-menſchlichen Widerſprüchen ſo har¬
moniſch gelöſt, der Glaube ſo ſtark, das Wiſſen ſo weit, die Erde ſo
himmliſch geworden, daß uns der Zuſtand von Sturm und Drang
nicht länger mehr zukäme? Ich dächte! Als ob Fauſt nicht ein
diſſonirendes Fragment wäre! Als ob Wilhelm Meiſter nicht dadurch
um die Piſtole herumkäme, daß die geſammte Weiblichkeit weniger
pretiös vor ihm thut, als vor Werther's armen lechzenden Sinnen!
Eigentlich hätte er ſich aus entgegengeſetzten Gründen erſchießen müſſen.
Das Problem der erfüllten Sinnlichkeit und Sittlichkeit iſt auch in
ihm nicht gelöſt, denn Mignon ſtirbt und iſt eine Abnormität. Kurz,
das Weimarer Miniſterial Reſcript, mit ſeiner griechiſchen Contra¬
ſignatur, war eben eine Regierungsmaßregel, wie die meiſten andern:
ſie drang nicht in's Volk, ſie war ein Willküract des Einzelnen. Und
als die Olympier mit ihrer erkünſtelten Griechen-Harmonie ſchon längſt
Ruhe und Ordnung geſtiftet zu haben glaubten, — ſiehe, da ſchlägt
uns das unterdrückte Feuer auf einmal in einem engliſchen Lord zu
Tage und wir hören das alte markzerreißende Pan-Geſchrei aus
Werther's brünſtigſten Tagen. Nichts iſt abgeſchloſſen ſeit Werther,
gar nichts; höchſtens die Lotten heißen anders. Die Freiheit und die
Nothwendigkeit, das ſubjective Recht und die objective Pflicht kämpfen
mit einander nach wie vor. Unſre Religion, unſer Staat, oder der
Weimarer reflectirtes Griechenthum haben die Ausgleichungsformel noch
nicht gefunden.

Die Weimarer haben die Sturm- und Drang-Periode nicht abge¬
ſchloſſen, ſondern blos unterbrochen und verwirrt. Als ſie von Werther
und Karl Moor abfielen, fielen ſie vom ganzen modernen Weltalter ab.
Sie legten den Inhalt der Poeſie aus der Individualität wieder in
die Nationalität zurück; allerdings griffen ſie nach der ſchönſten Na¬
tionalität — nach der griechiſchen. Aber es war immer eine will¬
kürliche Wahl und Andere konnten anders wählen. Das thaten denn
auch die Romantiker. Sie führten die Poeſie in die indiſche, ſkandi¬
naviſche, germaniſche, romaniſche, überhaupt in ſämmtliche Nationali¬
täten der Welt. Natürlich behauptet das Herz ſein Recht und ſelbſt
Münchhauſen wird manchmal die Wahrheit ſagen. So verrieth ſich
im nationalen Coſtüm gelegentlich das individuelle Herz. Aber ſonder¬
bar! bei ſolchen Gelegenheiten lachte man ſich entweder ſelbſt oder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0166" n="148"/>
ver&#x017F;öhnt, in &#x017F;einen thieri&#x017F;ch-göttlich-men&#x017F;chlichen Wider&#x017F;prüchen &#x017F;o har¬<lb/>
moni&#x017F;ch gelö&#x017F;t, der Glaube &#x017F;o &#x017F;tark, das Wi&#x017F;&#x017F;en &#x017F;o weit, die Erde &#x017F;o<lb/>
himmli&#x017F;ch geworden, daß uns der Zu&#x017F;tand von Sturm und Drang<lb/>
nicht länger mehr zukäme? Ich dächte! Als ob Fau&#x017F;t nicht ein<lb/>
di&#x017F;&#x017F;onirendes Fragment wäre! Als ob Wilhelm Mei&#x017F;ter nicht dadurch<lb/>
um die Pi&#x017F;tole herumkäme, daß die ge&#x017F;ammte Weiblichkeit weniger<lb/>
pretiös vor ihm thut, als vor Werther's armen lechzenden Sinnen!<lb/>
Eigentlich hätte er &#x017F;ich aus entgegenge&#x017F;etzten Gründen er&#x017F;chießen mü&#x017F;&#x017F;en.<lb/>
Das Problem der erfüllten Sinnlichkeit und Sittlichkeit i&#x017F;t auch in<lb/>
ihm nicht gelö&#x017F;t, denn Mignon &#x017F;tirbt und i&#x017F;t eine Abnormität. Kurz,<lb/>
das Weimarer Mini&#x017F;terial Re&#x017F;cript, mit &#x017F;einer griechi&#x017F;chen Contra¬<lb/>
&#x017F;ignatur, war eben eine Regierungsmaßregel, wie die mei&#x017F;ten andern:<lb/>
&#x017F;ie drang nicht in's Volk, &#x017F;ie war ein Willküract des Einzelnen. Und<lb/>
als die Olympier mit ihrer erkün&#x017F;telten Griechen-Harmonie &#x017F;chon läng&#x017F;t<lb/>
Ruhe und Ordnung ge&#x017F;tiftet zu haben glaubten, &#x2014; &#x017F;iehe, da &#x017F;chlägt<lb/>
uns das unterdrückte Feuer auf einmal in einem engli&#x017F;chen Lord zu<lb/>
Tage und wir hören das alte markzerreißende Pan-Ge&#x017F;chrei aus<lb/>
Werther's brün&#x017F;tig&#x017F;ten Tagen. Nichts i&#x017F;t abge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eit Werther,<lb/>
gar nichts; höch&#x017F;tens die Lotten heißen anders. Die Freiheit und die<lb/>
Nothwendigkeit, das &#x017F;ubjective Recht und die objective Pflicht kämpfen<lb/>
mit einander nach wie vor. Un&#x017F;re Religion, un&#x017F;er Staat, oder der<lb/>
Weimarer reflectirtes Griechenthum haben die Ausgleichungsformel noch<lb/>
nicht gefunden.</p><lb/>
          <p>Die Weimarer haben die Sturm- und Drang-Periode nicht abge¬<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern blos unterbrochen und verwirrt. Als &#x017F;ie von Werther<lb/>
und Karl Moor abfielen, fielen &#x017F;ie vom ganzen modernen Weltalter ab.<lb/>
Sie legten den Inhalt der Poe&#x017F;ie aus der Individualität wieder in<lb/>
die Nationalität zurück; allerdings griffen &#x017F;ie nach der &#x017F;chön&#x017F;ten Na¬<lb/>
tionalität &#x2014; nach der griechi&#x017F;chen. Aber es war immer eine will¬<lb/>
kürliche Wahl und Andere konnten anders wählen. Das thaten denn<lb/>
auch die Romantiker. Sie führten die Poe&#x017F;ie in die indi&#x017F;che, &#x017F;kandi¬<lb/>
navi&#x017F;che, germani&#x017F;che, romani&#x017F;che, überhaupt in &#x017F;ämmtliche Nationali¬<lb/>
täten der Welt. Natürlich behauptet das Herz &#x017F;ein Recht und &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
Münchhau&#x017F;en wird manchmal die Wahrheit &#x017F;agen. So verrieth &#x017F;ich<lb/>
im nationalen Co&#x017F;tüm gelegentlich das individuelle Herz. Aber &#x017F;onder¬<lb/>
bar! bei &#x017F;olchen Gelegenheiten lachte man &#x017F;ich entweder &#x017F;elb&#x017F;t oder<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[148/0166] verſöhnt, in ſeinen thieriſch-göttlich-menſchlichen Widerſprüchen ſo har¬ moniſch gelöſt, der Glaube ſo ſtark, das Wiſſen ſo weit, die Erde ſo himmliſch geworden, daß uns der Zuſtand von Sturm und Drang nicht länger mehr zukäme? Ich dächte! Als ob Fauſt nicht ein diſſonirendes Fragment wäre! Als ob Wilhelm Meiſter nicht dadurch um die Piſtole herumkäme, daß die geſammte Weiblichkeit weniger pretiös vor ihm thut, als vor Werther's armen lechzenden Sinnen! Eigentlich hätte er ſich aus entgegengeſetzten Gründen erſchießen müſſen. Das Problem der erfüllten Sinnlichkeit und Sittlichkeit iſt auch in ihm nicht gelöſt, denn Mignon ſtirbt und iſt eine Abnormität. Kurz, das Weimarer Miniſterial Reſcript, mit ſeiner griechiſchen Contra¬ ſignatur, war eben eine Regierungsmaßregel, wie die meiſten andern: ſie drang nicht in's Volk, ſie war ein Willküract des Einzelnen. Und als die Olympier mit ihrer erkünſtelten Griechen-Harmonie ſchon längſt Ruhe und Ordnung geſtiftet zu haben glaubten, — ſiehe, da ſchlägt uns das unterdrückte Feuer auf einmal in einem engliſchen Lord zu Tage und wir hören das alte markzerreißende Pan-Geſchrei aus Werther's brünſtigſten Tagen. Nichts iſt abgeſchloſſen ſeit Werther, gar nichts; höchſtens die Lotten heißen anders. Die Freiheit und die Nothwendigkeit, das ſubjective Recht und die objective Pflicht kämpfen mit einander nach wie vor. Unſre Religion, unſer Staat, oder der Weimarer reflectirtes Griechenthum haben die Ausgleichungsformel noch nicht gefunden. Die Weimarer haben die Sturm- und Drang-Periode nicht abge¬ ſchloſſen, ſondern blos unterbrochen und verwirrt. Als ſie von Werther und Karl Moor abfielen, fielen ſie vom ganzen modernen Weltalter ab. Sie legten den Inhalt der Poeſie aus der Individualität wieder in die Nationalität zurück; allerdings griffen ſie nach der ſchönſten Na¬ tionalität — nach der griechiſchen. Aber es war immer eine will¬ kürliche Wahl und Andere konnten anders wählen. Das thaten denn auch die Romantiker. Sie führten die Poeſie in die indiſche, ſkandi¬ naviſche, germaniſche, romaniſche, überhaupt in ſämmtliche Nationali¬ täten der Welt. Natürlich behauptet das Herz ſein Recht und ſelbſt Münchhauſen wird manchmal die Wahrheit ſagen. So verrieth ſich im nationalen Coſtüm gelegentlich das individuelle Herz. Aber ſonder¬ bar! bei ſolchen Gelegenheiten lachte man ſich entweder ſelbſt oder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/166
Zitationshilfe: Kürnberger, Ferdinand: Der Amerika-Müde. Frankfurt (Main), 1855, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kuernberger_amerikamuede_1855/166>, abgerufen am 22.11.2024.