Krieger, Ernst: [Lebenserinnerungen des Ernst Krieger]. Um 1907.meiner Schwester Lina, wo er zugleich das Seebad gebrauchen konnte. Die 2 anderen Pfarrer Zweibrückens hatten schon längere Zeit Vikare und zwar im Jahre 1853 zwei Universitätsfreunde von mir. Mit ihnen schloss ich mich eng zusammen zu gemeinsamer Arbeit und Erholung, zu Schutz und Trutz. Wir hatten sehr verschiedenes Temperament, Oberlinger war lebhaft und formlos, selbstlos und offen, in seinen Predigten scharf an die Gewissen und doch tröstlich zu Herzen redend. Stock war verschlossen, trocken, sarkastisch, seine Predigten feilte er sorgfältig und stellte oratorisch seinen Mann. Beide wurden gern gehört und zogen verschiedene Kreise an, erregten aber auch Unwillen. Mir erging es ähnlich und ich bekam aus dem Familienkreise heraus die Stimmen des Tadels und Beifalls bald mehr, bald weniger lebhaft zu hören. Unsere Jugend - wir zählten zusammen etwa 75 Jahre - trug uns den Titel Lausbuben ein, worüber wir uns mit dem Apostel Paulus zu Athen trösteten, dem das Wort Lotterbube nachgerufen wurde. Mir war es betrübend, wie sich das Bild meiner Vaterstadt gegenüber dem von früher in mir haftenden Eindrucke trübte und veränderte. In meinem Elternhause wurde jedermann Ehre gegeben. Die Skandalchronik wurde wenigstens vor uns Kindern nicht besprochen, üble Nachrede nicht geduldet, das Gute stets hervorgekehrt. Demnach hatte ich in der Zweibrücker Bürger- und Beamtenschaft überwiegend brave und würdige, geachtete und achtbare Männer und Frauen gesehen. Ach wie viele sanken herab, als ich nun in das Leben und Treiben der Stadt tiefer und schärfer hineinsah und hineinsehen musste. Viel Hohlheit, viel Leichtfertigkeit, viel Sittenlosigkeit machte sich breit und die Unkirchlichkeit war in den meisten Familien die Regel, von ernst-religiösem Sinn und evang.-frommen Leben nur wenige Reste in den Familien, nur wenige neue Ansätze bei einzelnen Personen. Vielleicht hätte sich das Bild der Gemeinde freundlicher und hoffnungsvoller gestaltet, wenn ich länger geblieben wäre. Ich sah und merkte ja zunächst nur, was sich hervordrängte, zu eingehendem seelsorgerlichem Verkehr mit allen Schichten der Bevölkerung kam es nicht und konnte es nicht kommen in der kurzen Zeit meines Zweibrücker Vikariates, in welcher ich viel Arbeit hatte meiner Schwester Lina, wo er zugleich das Seebad gebrauchen konnte. Die 2 anderen Pfarrer Zweibrückens hatten schon längere Zeit Vikare und zwar im Jahre 1853 zwei Universitätsfreunde von mir. Mit ihnen schloss ich mich eng zusammen zu gemeinsamer Arbeit und Erholung, zu Schutz und Trutz. Wir hatten sehr verschiedenes Temperament, Oberlinger war lebhaft und formlos, selbstlos und offen, in seinen Predigten scharf an die Gewissen und doch tröstlich zu Herzen redend. Stock war verschlossen, trocken, sarkastisch, seine Predigten feilte er sorgfältig und stellte oratorisch seinen Mann. Beide wurden gern gehört und zogen verschiedene Kreise an, erregten aber auch Unwillen. Mir erging es ähnlich und ich bekam aus dem Familienkreise heraus die Stimmen des Tadels und Beifalls bald mehr, bald weniger lebhaft zu hören. Unsere Jugend – wir zählten zusammen etwa 75 Jahre – trug uns den Titel Lausbuben ein, worüber wir uns mit dem Apostel Paulus zu Athen trösteten, dem das Wort Lotterbube nachgerufen wurde. Mir war es betrübend, wie sich das Bild meiner Vaterstadt gegenüber dem von früher in mir haftenden Eindrucke trübte und veränderte. In meinem Elternhause wurde jedermann Ehre gegeben. Die Skandalchronik wurde wenigstens vor uns Kindern nicht besprochen, üble Nachrede nicht geduldet, das Gute stets hervorgekehrt. Demnach hatte ich in der Zweibrücker Bürger- und Beamtenschaft überwiegend brave und würdige, geachtete und achtbare Männer und Frauen gesehen. Ach wie viele sanken herab, als ich nun in das Leben und Treiben der Stadt tiefer und schärfer hineinsah und hineinsehen musste. Viel Hohlheit, viel Leichtfertigkeit, viel Sittenlosigkeit machte sich breit und die Unkirchlichkeit war in den meisten Familien die Regel, von ernst-religiösem Sinn und evang.-frommen Leben nur wenige Reste in den Familien, nur wenige neue Ansätze bei einzelnen Personen. Vielleicht hätte sich das Bild der Gemeinde freundlicher und hoffnungsvoller gestaltet, wenn ich länger geblieben wäre. Ich sah und merkte ja zunächst nur, was sich hervordrängte, zu eingehendem seelsorgerlichem Verkehr mit allen Schichten der Bevölkerung kam es nicht und konnte es nicht kommen in der kurzen Zeit meines Zweibrücker Vikariates, in welcher ich viel Arbeit hatte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0044" n="44"/> meiner Schwester Lina, wo er zugleich das Seebad gebrauchen konnte.</p> <p>Die 2 anderen Pfarrer Zweibrückens hatten schon längere Zeit Vikare und zwar im Jahre 1853 zwei Universitätsfreunde von mir. Mit ihnen schloss ich mich eng zusammen zu gemeinsamer Arbeit und Erholung, zu Schutz und Trutz. Wir hatten sehr verschiedenes Temperament, Oberlinger war lebhaft und formlos, selbstlos und offen, in seinen Predigten scharf an die Gewissen und doch tröstlich zu Herzen redend. Stock war verschlossen, trocken, sarkastisch, seine Predigten feilte er sorgfältig und stellte oratorisch seinen Mann. Beide wurden gern gehört und zogen verschiedene Kreise an, erregten aber auch Unwillen. Mir erging es ähnlich und ich bekam aus dem Familienkreise heraus die Stimmen des Tadels und Beifalls bald mehr, bald weniger lebhaft zu hören. Unsere Jugend – wir zählten zusammen etwa 75 Jahre – trug uns den Titel Lausbuben ein, worüber wir uns mit dem Apostel Paulus zu Athen trösteten, dem das Wort Lotterbube nachgerufen wurde.</p> <p>Mir war es betrübend, wie sich das Bild meiner Vaterstadt gegenüber dem von früher in mir haftenden Eindrucke trübte und veränderte. In meinem Elternhause wurde jedermann Ehre gegeben. Die Skandalchronik wurde wenigstens vor uns Kindern nicht besprochen, üble Nachrede nicht geduldet, das Gute stets hervorgekehrt. Demnach hatte ich in der Zweibrücker Bürger- und Beamtenschaft überwiegend brave und würdige, geachtete und achtbare Männer und Frauen gesehen. Ach wie viele sanken herab, als ich nun in das Leben und Treiben der Stadt tiefer und schärfer hineinsah und hineinsehen musste. Viel Hohlheit, viel Leichtfertigkeit, viel Sittenlosigkeit machte sich breit und die Unkirchlichkeit war in den meisten Familien die Regel, von ernst-religiösem Sinn und evang.-frommen Leben nur wenige Reste in den Familien, nur wenige neue Ansätze bei einzelnen Personen. Vielleicht hätte sich das Bild der Gemeinde freundlicher und hoffnungsvoller gestaltet, wenn ich länger geblieben wäre. Ich sah und merkte ja zunächst nur, was sich hervordrängte, zu eingehendem seelsorgerlichem Verkehr mit allen Schichten der Bevölkerung kam es nicht und konnte es nicht kommen in der kurzen Zeit meines Zweibrücker Vikariates, in welcher ich viel Arbeit hatte </p> </div> </body> </text> </TEI> [44/0044]
meiner Schwester Lina, wo er zugleich das Seebad gebrauchen konnte.
Die 2 anderen Pfarrer Zweibrückens hatten schon längere Zeit Vikare und zwar im Jahre 1853 zwei Universitätsfreunde von mir. Mit ihnen schloss ich mich eng zusammen zu gemeinsamer Arbeit und Erholung, zu Schutz und Trutz. Wir hatten sehr verschiedenes Temperament, Oberlinger war lebhaft und formlos, selbstlos und offen, in seinen Predigten scharf an die Gewissen und doch tröstlich zu Herzen redend. Stock war verschlossen, trocken, sarkastisch, seine Predigten feilte er sorgfältig und stellte oratorisch seinen Mann. Beide wurden gern gehört und zogen verschiedene Kreise an, erregten aber auch Unwillen. Mir erging es ähnlich und ich bekam aus dem Familienkreise heraus die Stimmen des Tadels und Beifalls bald mehr, bald weniger lebhaft zu hören. Unsere Jugend – wir zählten zusammen etwa 75 Jahre – trug uns den Titel Lausbuben ein, worüber wir uns mit dem Apostel Paulus zu Athen trösteten, dem das Wort Lotterbube nachgerufen wurde.
Mir war es betrübend, wie sich das Bild meiner Vaterstadt gegenüber dem von früher in mir haftenden Eindrucke trübte und veränderte. In meinem Elternhause wurde jedermann Ehre gegeben. Die Skandalchronik wurde wenigstens vor uns Kindern nicht besprochen, üble Nachrede nicht geduldet, das Gute stets hervorgekehrt. Demnach hatte ich in der Zweibrücker Bürger- und Beamtenschaft überwiegend brave und würdige, geachtete und achtbare Männer und Frauen gesehen. Ach wie viele sanken herab, als ich nun in das Leben und Treiben der Stadt tiefer und schärfer hineinsah und hineinsehen musste. Viel Hohlheit, viel Leichtfertigkeit, viel Sittenlosigkeit machte sich breit und die Unkirchlichkeit war in den meisten Familien die Regel, von ernst-religiösem Sinn und evang.-frommen Leben nur wenige Reste in den Familien, nur wenige neue Ansätze bei einzelnen Personen. Vielleicht hätte sich das Bild der Gemeinde freundlicher und hoffnungsvoller gestaltet, wenn ich länger geblieben wäre. Ich sah und merkte ja zunächst nur, was sich hervordrängte, zu eingehendem seelsorgerlichem Verkehr mit allen Schichten der Bevölkerung kam es nicht und konnte es nicht kommen in der kurzen Zeit meines Zweibrücker Vikariates, in welcher ich viel Arbeit hatte
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