Krieger, Ernst: [Lebenserinnerungen des Ernst Krieger]. Um 1907.Unser Besuch hatte sie in nicht desinfizierten Eisenbahnwagen aufgelesen, in welchen franz. Kriegsgefangene transportiert worden waren. Das Kind genas nach 4 Wochen. So lange waren wir eingesperrt und von aller Welt abgesperrt, kamen aber ohne weiteren Schaden, als den, welchen das Chlorgas anrichtete, davon. Unser Pflegekind, vor dessen Aufnahme uns besonders meine Eltern dringend gewarnt hatten, machte uns wenig Freude. Es hatte allerley Untugenden; sie mit aller Strenge zu bekämpfen, scheuten wir uns. Bei unseren eigenen Kindern wussten wir, dass unsere Liebe die Zuchtruthe führte und dass ihre Liebe darunter nicht erkaltete. Des fremden Kindes Liebe wollten wir gewinnen und waren stets unsicher, wie weit wir in der Schärfe mit Wort und That gehen dürften. Wir haben da wohl manches Mal nicht ernst genug durchgegriffen. Es gelang uns nicht seine Lügenhaftigkeit und Unaufrichtigkeit auszumerzen, Gewissenhaftigkeit und Fleiss in ihm zu pflanzen, Vertrauen und innerlichen Gehorsam zu gewinnen, Anspruchslosigkeit und Zufriedenheit zu erzielen. Später setzte Emma unseren Plänen ihren Eigenwillen entgegen, trotzte und hinterging, verläumdete und verbitterte besonders meiner Frau das Leben. Sie wollte heirathen und wenn es mit einem Sackträger wäre. Als ich durch Vermittlung ihrer Tante Weimann eine Gelegenheit zur Heirath fand und zwar nach Braunschweig, gab ich ihr alles Pflegegeld, welches ich aus Köln empfangen hatte nebst sonstiger Aussteuer mit und liess sie nach 21jährigem Aufenthalte bei uns ziehen ohne sie auch nur einmal zu vermissen. Sie vermisste uns freilich sehr, denn sie gerieth theils ohne, theils durch eigene Schuld in grosses Elend und wird schwerlich aufhören, uns mit allen möglichen Ansprüchen heimzusuchen. Die geistliche Arbeit in der Pfarrei ging ziemlich ruhig nach dem Kriege ihren Gang. Als Nebenarbeit hatte ich Unterricht bei dem jüngsten Sohn von Heinrich Kraemer und bei den Töchtern des verstorbenen Friedr. Kraemer jun. übernommen, die ältere empfing Konfirmandenunterricht, beide Töchter Unterricht in der deutschen Geschichte, dem als corona meist auch Erwachsenen der Famille beiwohnten, so dass ich mich sorgfältig vorbereiten musste. Unser Besuch hatte sie in nicht desinfizierten Eisenbahnwagen aufgelesen, in welchen franz. Kriegsgefangene transportiert worden waren. Das Kind genas nach 4 Wochen. So lange waren wir eingesperrt und von aller Welt abgesperrt, kamen aber ohne weiteren Schaden, als den, welchen das Chlorgas anrichtete, davon. Unser Pflegekind, vor dessen Aufnahme uns besonders meine Eltern dringend gewarnt hatten, machte uns wenig Freude. Es hatte allerley Untugenden; sie mit aller Strenge zu bekämpfen, scheuten wir uns. Bei unseren eigenen Kindern wussten wir, dass unsere Liebe die Zuchtruthe führte und dass ihre Liebe darunter nicht erkaltete. Des fremden Kindes Liebe wollten wir gewinnen und waren stets unsicher, wie weit wir in der Schärfe mit Wort und That gehen dürften. Wir haben da wohl manches Mal nicht ernst genug durchgegriffen. Es gelang uns nicht seine Lügenhaftigkeit und Unaufrichtigkeit auszumerzen, Gewissenhaftigkeit und Fleiss in ihm zu pflanzen, Vertrauen und innerlichen Gehorsam zu gewinnen, Anspruchslosigkeit und Zufriedenheit zu erzielen. Später setzte Emma unseren Plänen ihren Eigenwillen entgegen, trotzte und hinterging, verläumdete und verbitterte besonders meiner Frau das Leben. Sie wollte heirathen und wenn es mit einem Sackträger wäre. Als ich durch Vermittlung ihrer Tante Weimann eine Gelegenheit zur Heirath fand und zwar nach Braunschweig, gab ich ihr alles Pflegegeld, welches ich aus Köln empfangen hatte nebst sonstiger Aussteuer mit und liess sie nach 21jährigem Aufenthalte bei uns ziehen ohne sie auch nur einmal zu vermissen. Sie vermisste uns freilich sehr, denn sie gerieth theils ohne, theils durch eigene Schuld in grosses Elend und wird schwerlich aufhören, uns mit allen möglichen Ansprüchen heimzusuchen. Die geistliche Arbeit in der Pfarrei ging ziemlich ruhig nach dem Kriege ihren Gang. Als Nebenarbeit hatte ich Unterricht bei dem jüngsten Sohn von Heinrich Kraemer und bei den Töchtern des verstorbenen Friedr. Kraemer jun. übernommen, die ältere empfing Konfirmandenunterricht, beide Töchter Unterricht in der deutschen Geschichte, dem als corona meist auch Erwachsenen der Famille beiwohnten, so dass ich mich sorgfältig vorbereiten musste. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0104" n="104"/> Unser Besuch hatte sie in nicht desinfizierten Eisenbahnwagen aufgelesen, in welchen franz. Kriegsgefangene transportiert worden waren. Das Kind genas nach 4 Wochen. So lange waren wir eingesperrt und von aller Welt abgesperrt, kamen aber ohne weiteren Schaden, als den, welchen das Chlorgas anrichtete, davon.</p> <p>Unser Pflegekind, vor dessen Aufnahme uns besonders meine Eltern dringend gewarnt hatten, machte uns wenig Freude. Es hatte allerley Untugenden; sie mit aller Strenge zu bekämpfen, scheuten wir uns. Bei unseren eigenen Kindern wussten wir, dass unsere Liebe die Zuchtruthe führte und dass ihre Liebe darunter nicht erkaltete. Des fremden Kindes Liebe wollten wir gewinnen und waren stets unsicher, wie weit wir in der Schärfe mit Wort und That gehen dürften. Wir haben da wohl manches Mal nicht ernst genug durchgegriffen. Es gelang uns nicht seine Lügenhaftigkeit und Unaufrichtigkeit auszumerzen, Gewissenhaftigkeit und Fleiss in ihm zu pflanzen, Vertrauen und innerlichen Gehorsam zu gewinnen, Anspruchslosigkeit und Zufriedenheit zu erzielen. Später setzte Emma unseren Plänen ihren Eigenwillen entgegen, trotzte und hinterging, verläumdete und verbitterte besonders meiner Frau das Leben. Sie wollte heirathen und wenn es mit einem Sackträger wäre. Als ich durch Vermittlung ihrer Tante Weimann eine Gelegenheit zur Heirath fand und zwar nach Braunschweig, gab ich ihr alles Pflegegeld, welches ich aus Köln empfangen hatte nebst sonstiger Aussteuer mit und liess sie nach 21jährigem Aufenthalte bei uns ziehen ohne sie auch nur einmal zu vermissen. Sie vermisste uns freilich sehr, denn sie gerieth theils ohne, theils durch eigene Schuld in grosses Elend und wird schwerlich aufhören, uns mit allen möglichen Ansprüchen heimzusuchen.</p> <p>Die geistliche Arbeit in der Pfarrei ging ziemlich ruhig nach dem Kriege ihren Gang. Als Nebenarbeit hatte ich Unterricht bei dem jüngsten Sohn von Heinrich Kraemer und bei den Töchtern des verstorbenen Friedr. Kraemer jun. übernommen, die ältere empfing Konfirmandenunterricht, beide Töchter Unterricht in der deutschen Geschichte, dem als corona meist auch Erwachsenen der Famille beiwohnten, so dass ich mich sorgfältig vorbereiten musste. </p> </div> </body> </text> </TEI> [104/0104]
Unser Besuch hatte sie in nicht desinfizierten Eisenbahnwagen aufgelesen, in welchen franz. Kriegsgefangene transportiert worden waren. Das Kind genas nach 4 Wochen. So lange waren wir eingesperrt und von aller Welt abgesperrt, kamen aber ohne weiteren Schaden, als den, welchen das Chlorgas anrichtete, davon.
Unser Pflegekind, vor dessen Aufnahme uns besonders meine Eltern dringend gewarnt hatten, machte uns wenig Freude. Es hatte allerley Untugenden; sie mit aller Strenge zu bekämpfen, scheuten wir uns. Bei unseren eigenen Kindern wussten wir, dass unsere Liebe die Zuchtruthe führte und dass ihre Liebe darunter nicht erkaltete. Des fremden Kindes Liebe wollten wir gewinnen und waren stets unsicher, wie weit wir in der Schärfe mit Wort und That gehen dürften. Wir haben da wohl manches Mal nicht ernst genug durchgegriffen. Es gelang uns nicht seine Lügenhaftigkeit und Unaufrichtigkeit auszumerzen, Gewissenhaftigkeit und Fleiss in ihm zu pflanzen, Vertrauen und innerlichen Gehorsam zu gewinnen, Anspruchslosigkeit und Zufriedenheit zu erzielen. Später setzte Emma unseren Plänen ihren Eigenwillen entgegen, trotzte und hinterging, verläumdete und verbitterte besonders meiner Frau das Leben. Sie wollte heirathen und wenn es mit einem Sackträger wäre. Als ich durch Vermittlung ihrer Tante Weimann eine Gelegenheit zur Heirath fand und zwar nach Braunschweig, gab ich ihr alles Pflegegeld, welches ich aus Köln empfangen hatte nebst sonstiger Aussteuer mit und liess sie nach 21jährigem Aufenthalte bei uns ziehen ohne sie auch nur einmal zu vermissen. Sie vermisste uns freilich sehr, denn sie gerieth theils ohne, theils durch eigene Schuld in grosses Elend und wird schwerlich aufhören, uns mit allen möglichen Ansprüchen heimzusuchen.
Die geistliche Arbeit in der Pfarrei ging ziemlich ruhig nach dem Kriege ihren Gang. Als Nebenarbeit hatte ich Unterricht bei dem jüngsten Sohn von Heinrich Kraemer und bei den Töchtern des verstorbenen Friedr. Kraemer jun. übernommen, die ältere empfing Konfirmandenunterricht, beide Töchter Unterricht in der deutschen Geschichte, dem als corona meist auch Erwachsenen der Famille beiwohnten, so dass ich mich sorgfältig vorbereiten musste.
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