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Krieger, Ernst: [Lebenserinnerungen des Ernst Krieger]. Um 1907.

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Denn das jüngere Kind erkrankte und unser Hausarzt konnte die Krankheit nicht sogleich feststellen, wollte dies am folgenden Morgen thun, gab mir aber eine Andeutung seiner Vermuthung. Am folgenden Morgen kam der neu eingetretene Dekan Rettig, mein Universitätsfreund, mit Frau und Sohn zum Antrittsbesuche. Während ich mit ihm mich unterhalte, tritt der Arzt ins Zimmer mit Lanzette und einem Glasröhrchen. "Sind sie's?" frug ich und auf sein Ja musste ich meinem Dekan sagen: Erschrick nicht, ziehe den Rock aus, mache den Hemdärmel zurück und lasse Dich impfen, denn wir haben die Blattern im Hause. Kaum war es geschehen, da kam ein Schrei aus dem Fremdenzimmer; Frl. Weimann war in Ohnmacht gefallen, der Arzt ruft nach Wasser und Hilfe, ich eile um Frau Rettig vorzubereiten auf ihre Impfung. Ehe ich ausgeredet, fällt auch sie in Ohnmacht. Kaum ist sie versorgt, ruft mein Karl, der bereits geimpft war: es wird mir so schwarz vor den Augen. Also auch dieser ohnmächtig. Das Dienstmädchen wird ebenfalls kreideweiss. Ich schüttele sie, damit sie den Kopf oben behält. Endlich ist alles im Hause geimpft und beruhigt sich bis auf den Dekansbuben, der nicht aufzufinden ist, bis er nach langem Suchen auf dem Abort entdeckt wird. Die Verwirrung, das Entsetzen und die Ohnmachten lösen sich allmählich und nach 1 Uhr sitzen wir zu Tische. Niemand ass ordentlich, mühselig ging die Unterhaltung. Endlich sage ich dem Dekan: Lieber Freund, wenn Du die Flucht ergreifst, kann es Dir niemand übel nehmen; in 25 Minuten geht ein Zug nach Homburg. Sie reisten ab und konnten es ohne Gefahr, sie waren ja geimpft und noch dazu unentgeltlich.

Ich mache auf dem Bürgermeisteramte Anzeige vom Stande der Dinge und bekomme sofort die Tafel ans Haus mit der Inschrift: Hier herrschen Menschenblattern. Der Polizeydiener, der die Tafel anschlug, sagte theilnehmend zu mir: Nun bekommen Sie doch auch einmal ein wenig Ruhe. Er wusste, welche Unruhe und Anstrengung ich seit Monaten gehabt hatte.

So hatten wir also die Blattern im Hause. Schon 2 Jahre vorher hatten wir sie in der Gemeinde gehabt und ich hatte die Krankheit an Kranken- und Sterbebetten kennen gelernt.

Denn das jüngere Kind erkrankte und unser Hausarzt konnte die Krankheit nicht sogleich feststellen, wollte dies am folgenden Morgen thun, gab mir aber eine Andeutung seiner Vermuthung. Am folgenden Morgen kam der neu eingetretene Dekan Rettig, mein Universitätsfreund, mit Frau und Sohn zum Antrittsbesuche. Während ich mit ihm mich unterhalte, tritt der Arzt ins Zimmer mit Lanzette und einem Glasröhrchen. ”Sind sie’s?“ frug ich und auf sein Ja musste ich meinem Dekan sagen: Erschrick nicht, ziehe den Rock aus, mache den Hemdärmel zurück und lasse Dich impfen, denn wir haben die Blattern im Hause. Kaum war es geschehen, da kam ein Schrei aus dem Fremdenzimmer; Frl. Weimann war in Ohnmacht gefallen, der Arzt ruft nach Wasser und Hilfe, ich eile um Frau Rettig vorzubereiten auf ihre Impfung. Ehe ich ausgeredet, fällt auch sie in Ohnmacht. Kaum ist sie versorgt, ruft mein Karl, der bereits geimpft war: es wird mir so schwarz vor den Augen. Also auch dieser ohnmächtig. Das Dienstmädchen wird ebenfalls kreideweiss. Ich schüttele sie, damit sie den Kopf oben behält. Endlich ist alles im Hause geimpft und beruhigt sich bis auf den Dekansbuben, der nicht aufzufinden ist, bis er nach langem Suchen auf dem Abort entdeckt wird. Die Verwirrung, das Entsetzen und die Ohnmachten lösen sich allmählich und nach 1 Uhr sitzen wir zu Tische. Niemand ass ordentlich, mühselig ging die Unterhaltung. Endlich sage ich dem Dekan: Lieber Freund, wenn Du die Flucht ergreifst, kann es Dir niemand übel nehmen; in 25 Minuten geht ein Zug nach Homburg. Sie reisten ab und konnten es ohne Gefahr, sie waren ja geimpft und noch dazu unentgeltlich.

Ich mache auf dem Bürgermeisteramte Anzeige vom Stande der Dinge und bekomme sofort die Tafel ans Haus mit der Inschrift: Hier herrschen Menschenblattern. Der Polizeydiener, der die Tafel anschlug, sagte theilnehmend zu mir: Nun bekommen Sie doch auch einmal ein wenig Ruhe. Er wusste, welche Unruhe und Anstrengung ich seit Monaten gehabt hatte.

So hatten wir also die Blattern im Hause. Schon 2 Jahre vorher hatten wir sie in der Gemeinde gehabt und ich hatte die Krankheit an Kranken- und Sterbebetten kennen gelernt.

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Denn das jüngere Kind erkrankte und unser Hausarzt konnte die Krankheit nicht sogleich feststellen, wollte dies am folgenden Morgen thun, gab mir aber eine Andeutung seiner Vermuthung. Am folgenden Morgen kam der neu eingetretene Dekan Rettig, mein Universitätsfreund, mit Frau und Sohn zum Antrittsbesuche. Während ich mit ihm mich unterhalte, tritt der Arzt ins Zimmer mit Lanzette und einem Glasröhrchen. &#x201D;Sind sie&#x2019;s?&#x201C; frug ich und auf sein Ja musste ich meinem Dekan sagen: Erschrick nicht, ziehe den Rock aus, mache den Hemdärmel zurück und lasse Dich impfen, denn wir haben die Blattern im Hause. Kaum war es geschehen, da kam ein Schrei aus dem Fremdenzimmer; Frl. Weimann war in Ohnmacht gefallen, der Arzt ruft nach Wasser und Hilfe, ich eile um Frau Rettig vorzubereiten auf ihre Impfung. Ehe ich ausgeredet, fällt auch sie in Ohnmacht. Kaum ist sie versorgt, ruft mein Karl, der bereits geimpft war: es wird mir so schwarz vor den Augen. Also auch dieser ohnmächtig. Das Dienstmädchen wird ebenfalls kreideweiss. Ich schüttele sie, damit sie den Kopf oben behält. Endlich ist alles im Hause geimpft und beruhigt sich bis auf den Dekansbuben, der nicht aufzufinden ist, bis er nach langem Suchen auf dem Abort entdeckt wird. Die Verwirrung, das Entsetzen und die Ohnmachten lösen sich allmählich und nach 1 Uhr sitzen wir zu Tische. Niemand ass ordentlich, mühselig ging die Unterhaltung. Endlich sage ich dem Dekan: Lieber Freund, wenn Du die Flucht ergreifst, kann es Dir niemand übel nehmen; in 25 Minuten geht ein Zug nach Homburg. Sie reisten ab und konnten es ohne Gefahr, sie waren ja geimpft und noch dazu unentgeltlich.</p>
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[103/0103] Denn das jüngere Kind erkrankte und unser Hausarzt konnte die Krankheit nicht sogleich feststellen, wollte dies am folgenden Morgen thun, gab mir aber eine Andeutung seiner Vermuthung. Am folgenden Morgen kam der neu eingetretene Dekan Rettig, mein Universitätsfreund, mit Frau und Sohn zum Antrittsbesuche. Während ich mit ihm mich unterhalte, tritt der Arzt ins Zimmer mit Lanzette und einem Glasröhrchen. ”Sind sie’s?“ frug ich und auf sein Ja musste ich meinem Dekan sagen: Erschrick nicht, ziehe den Rock aus, mache den Hemdärmel zurück und lasse Dich impfen, denn wir haben die Blattern im Hause. Kaum war es geschehen, da kam ein Schrei aus dem Fremdenzimmer; Frl. Weimann war in Ohnmacht gefallen, der Arzt ruft nach Wasser und Hilfe, ich eile um Frau Rettig vorzubereiten auf ihre Impfung. Ehe ich ausgeredet, fällt auch sie in Ohnmacht. Kaum ist sie versorgt, ruft mein Karl, der bereits geimpft war: es wird mir so schwarz vor den Augen. Also auch dieser ohnmächtig. Das Dienstmädchen wird ebenfalls kreideweiss. Ich schüttele sie, damit sie den Kopf oben behält. Endlich ist alles im Hause geimpft und beruhigt sich bis auf den Dekansbuben, der nicht aufzufinden ist, bis er nach langem Suchen auf dem Abort entdeckt wird. Die Verwirrung, das Entsetzen und die Ohnmachten lösen sich allmählich und nach 1 Uhr sitzen wir zu Tische. Niemand ass ordentlich, mühselig ging die Unterhaltung. Endlich sage ich dem Dekan: Lieber Freund, wenn Du die Flucht ergreifst, kann es Dir niemand übel nehmen; in 25 Minuten geht ein Zug nach Homburg. Sie reisten ab und konnten es ohne Gefahr, sie waren ja geimpft und noch dazu unentgeltlich. Ich mache auf dem Bürgermeisteramte Anzeige vom Stande der Dinge und bekomme sofort die Tafel ans Haus mit der Inschrift: Hier herrschen Menschenblattern. Der Polizeydiener, der die Tafel anschlug, sagte theilnehmend zu mir: Nun bekommen Sie doch auch einmal ein wenig Ruhe. Er wusste, welche Unruhe und Anstrengung ich seit Monaten gehabt hatte. So hatten wir also die Blattern im Hause. Schon 2 Jahre vorher hatten wir sie in der Gemeinde gehabt und ich hatte die Krankheit an Kranken- und Sterbebetten kennen gelernt.

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Zitationshilfe: Krieger, Ernst: [Lebenserinnerungen des Ernst Krieger]. Um 1907, S. 103. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/krieger_lebenserinnerungen_1907/103>, abgerufen am 23.11.2024.