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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Die Aprilsonne lag erwärmend auf den Bäumen und
Sträuchern, an denen bereits das erste Grün sich bemerkbar
machte; und ein frischer Erdgeruch entstieg dem keimenden
Boden und würzte die Luft. Nur wie ein leises Brausen
drang das Branden und Wogen des Berliner Lebens über
die Dächer hinweg in diese abgeschlossene Idylle hinein.

Wenn Johannes Timpe seinen Sohn zu Gesicht bekam,
galt seine erste Frage den Fortschritten im Geschäft. In
den ewig sich gleichbleibenden Worten: "Nun wie war's
heute -- sind sie zufrieden mit Dir?" lag die ganze Zärtlich¬
keit, die er für seinen Sohn stets in so reichem Maße übrig hatte.

Franz überhörte heute die Frage ganz; dafür aber sagte
er sofort:

"Weißt Du noch Vater, wie meinetwegen die Mauer
errichtet wurde?"

Meister Timpe blickte bei dieser merkwürdigen Frage auf.

"Gewiß, mein Junge, aber wie kommst Du darauf?"

Franz schwieg ein paar Minuten, denn es fiel ihm ein,
daß er zuvor etwas Nützlicheres zu thun habe, als sogleich
die Frage seines Vaters zu beantworten. Er zog eine Haar¬
bürste hervor, musterte sich eine Weile aufmerksam in dem
Stückchen Spiegel derselben, glättete seine nach der neuesten
Mode in der Mitte kokett gescheitelte Frisur, versuchte den
Spitzen des keimenden Schnurrbartes eine symmetrische Form
zu geben, pfiff leise vor sich hin, stellte sich mit den Händen
in den Hosentaschen breitbeinig vor seinen Vater hin und er¬
widerte dann erst:

"Wer hätte jemals daran gedacht, daß ich doch noch über
die Mauer hinwegkommen würde. Denke Dir nur: Herr
Urban hat die Wittwe da drüben geheirathet und zwar ganz

Die Aprilſonne lag erwärmend auf den Bäumen und
Sträuchern, an denen bereits das erſte Grün ſich bemerkbar
machte; und ein friſcher Erdgeruch entſtieg dem keimenden
Boden und würzte die Luft. Nur wie ein leiſes Brauſen
drang das Branden und Wogen des Berliner Lebens über
die Dächer hinweg in dieſe abgeſchloſſene Idylle hinein.

Wenn Johannes Timpe ſeinen Sohn zu Geſicht bekam,
galt ſeine erſte Frage den Fortſchritten im Geſchäft. In
den ewig ſich gleichbleibenden Worten: „Nun wie war's
heute — ſind ſie zufrieden mit Dir?“ lag die ganze Zärtlich¬
keit, die er für ſeinen Sohn ſtets in ſo reichem Maße übrig hatte.

Franz überhörte heute die Frage ganz; dafür aber ſagte
er ſofort:

„Weißt Du noch Vater, wie meinetwegen die Mauer
errichtet wurde?“

Meiſter Timpe blickte bei dieſer merkwürdigen Frage auf.

„Gewiß, mein Junge, aber wie kommſt Du darauf?“

Franz ſchwieg ein paar Minuten, denn es fiel ihm ein,
daß er zuvor etwas Nützlicheres zu thun habe, als ſogleich
die Frage ſeines Vaters zu beantworten. Er zog eine Haar¬
bürſte hervor, muſterte ſich eine Weile aufmerkſam in dem
Stückchen Spiegel derſelben, glättete ſeine nach der neueſten
Mode in der Mitte kokett geſcheitelte Friſur, verſuchte den
Spitzen des keimenden Schnurrbartes eine ſymmetriſche Form
zu geben, pfiff leiſe vor ſich hin, ſtellte ſich mit den Händen
in den Hoſentaſchen breitbeinig vor ſeinen Vater hin und er¬
widerte dann erſt:

„Wer hätte jemals daran gedacht, daß ich doch noch über
die Mauer hinwegkommen würde. Denke Dir nur: Herr
Urban hat die Wittwe da drüben geheirathet und zwar ganz

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[27/0039] Die Aprilſonne lag erwärmend auf den Bäumen und Sträuchern, an denen bereits das erſte Grün ſich bemerkbar machte; und ein friſcher Erdgeruch entſtieg dem keimenden Boden und würzte die Luft. Nur wie ein leiſes Brauſen drang das Branden und Wogen des Berliner Lebens über die Dächer hinweg in dieſe abgeſchloſſene Idylle hinein. Wenn Johannes Timpe ſeinen Sohn zu Geſicht bekam, galt ſeine erſte Frage den Fortſchritten im Geſchäft. In den ewig ſich gleichbleibenden Worten: „Nun wie war's heute — ſind ſie zufrieden mit Dir?“ lag die ganze Zärtlich¬ keit, die er für ſeinen Sohn ſtets in ſo reichem Maße übrig hatte. Franz überhörte heute die Frage ganz; dafür aber ſagte er ſofort: „Weißt Du noch Vater, wie meinetwegen die Mauer errichtet wurde?“ Meiſter Timpe blickte bei dieſer merkwürdigen Frage auf. „Gewiß, mein Junge, aber wie kommſt Du darauf?“ Franz ſchwieg ein paar Minuten, denn es fiel ihm ein, daß er zuvor etwas Nützlicheres zu thun habe, als ſogleich die Frage ſeines Vaters zu beantworten. Er zog eine Haar¬ bürſte hervor, muſterte ſich eine Weile aufmerkſam in dem Stückchen Spiegel derſelben, glättete ſeine nach der neueſten Mode in der Mitte kokett geſcheitelte Friſur, verſuchte den Spitzen des keimenden Schnurrbartes eine ſymmetriſche Form zu geben, pfiff leiſe vor ſich hin, ſtellte ſich mit den Händen in den Hoſentaſchen breitbeinig vor ſeinen Vater hin und er¬ widerte dann erſt: „Wer hätte jemals daran gedacht, daß ich doch noch über die Mauer hinwegkommen würde. Denke Dir nur: Herr Urban hat die Wittwe da drüben geheirathet und zwar ganz

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/39>, abgerufen am 24.11.2024.