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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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menschenwürdigen Dasein. Wir wollen nicht prassen, nicht
schlemmen, wir wollen aber auch nicht die traurige Mög¬
lichkeit vor Augen haben, eines Tages physisch
und moralisch zu verkommen, mit dem entsetzlichen Ge¬
danken aus der Welt scheiden, unsere Frauen und Kinder als
hülflose Wesen zurücklassen zu müssen . . . Wir wollen auch
nicht geistig verthieren, sondern nach der Arbeit so viel Zeit
übrig haben, um uns fortzubilden, neben der leiblichen auch
geistige Nahrung zu uns nehmen zu können . . . Unter der
heutigen Produktionsweise ist das aber unmöglich. Ein Bei¬
spiel sehen Sie an mir. Ich bin verheirathet und Vater von
zwei kleinen Kindern. Ich wohne weit oben in der Brunnen¬
straße, habe einen Weg von dreiviertel Stunden bis nach der
Fabrik zurückzulegen. Seit Monaten habe ich bei Urban des
Abends bis neun Uhr arbeiten müssen. Frühmorgens, wenn
ich mein Heim verlasse, schlafen meine Kinder noch und kehre
ich Abends spät nach Hause, so liegen sie schon wieder und
träumen. So kam es denn, daß es mir nur alle acht Tage
vergönnt war, meine Kinder sprechen zu hören, ihnen in die
Augen zu schauen . . ."

Eine Bewegung entstand, und er fuhr fort: "Ja, meine
Herren, wie oft kommt es nicht vor, daß wir auch des Sonn¬
tags Vormittags nach der Fabrik müssen, weil es so ver¬
langt wird. Es giebt Leute, die uns Arbeitern vorhalten,
wir besäßen keine Religion, es stände besser um uns, wenn
wir nach der Kirche gingen. Nun, meine Herren, man läßt
uns nicht einmal Zeit zum Beten. Wir verrichten im
Schweiße des Angesichts am Sonntag Vormittag unsere Ar¬
beit und das ist unser Gebet . . ." Er machte eine Pause.

Kein lauter Beifall erschallte diesmal, aber die allgemeine

menſchenwürdigen Daſein. Wir wollen nicht praſſen, nicht
ſchlemmen, wir wollen aber auch nicht die traurige Mög¬
lichkeit vor Augen haben, eines Tages phyſiſch
und moraliſch zu verkommen, mit dem entſetzlichen Ge¬
danken aus der Welt ſcheiden, unſere Frauen und Kinder als
hülfloſe Weſen zurücklaſſen zu müſſen . . . Wir wollen auch
nicht geiſtig verthieren, ſondern nach der Arbeit ſo viel Zeit
übrig haben, um uns fortzubilden, neben der leiblichen auch
geiſtige Nahrung zu uns nehmen zu können . . . Unter der
heutigen Produktionsweiſe iſt das aber unmöglich. Ein Bei¬
ſpiel ſehen Sie an mir. Ich bin verheirathet und Vater von
zwei kleinen Kindern. Ich wohne weit oben in der Brunnen¬
ſtraße, habe einen Weg von dreiviertel Stunden bis nach der
Fabrik zurückzulegen. Seit Monaten habe ich bei Urban des
Abends bis neun Uhr arbeiten müſſen. Frühmorgens, wenn
ich mein Heim verlaſſe, ſchlafen meine Kinder noch und kehre
ich Abends ſpät nach Hauſe, ſo liegen ſie ſchon wieder und
träumen. So kam es denn, daß es mir nur alle acht Tage
vergönnt war, meine Kinder ſprechen zu hören, ihnen in die
Augen zu ſchauen . . .“

Eine Bewegung entſtand, und er fuhr fort: „Ja, meine
Herren, wie oft kommt es nicht vor, daß wir auch des Sonn¬
tags Vormittags nach der Fabrik müſſen, weil es ſo ver¬
langt wird. Es giebt Leute, die uns Arbeitern vorhalten,
wir beſäßen keine Religion, es ſtände beſſer um uns, wenn
wir nach der Kirche gingen. Nun, meine Herren, man läßt
uns nicht einmal Zeit zum Beten. Wir verrichten im
Schweiße des Angeſichts am Sonntag Vormittag unſere Ar¬
beit und das iſt unſer Gebet . . .“ Er machte eine Pauſe.

Kein lauter Beifall erſchallte diesmal, aber die allgemeine

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[290/0302] menſchenwürdigen Daſein. Wir wollen nicht praſſen, nicht ſchlemmen, wir wollen aber auch nicht die traurige Mög¬ lichkeit vor Augen haben, eines Tages phyſiſch und moraliſch zu verkommen, mit dem entſetzlichen Ge¬ danken aus der Welt ſcheiden, unſere Frauen und Kinder als hülfloſe Weſen zurücklaſſen zu müſſen . . . Wir wollen auch nicht geiſtig verthieren, ſondern nach der Arbeit ſo viel Zeit übrig haben, um uns fortzubilden, neben der leiblichen auch geiſtige Nahrung zu uns nehmen zu können . . . Unter der heutigen Produktionsweiſe iſt das aber unmöglich. Ein Bei¬ ſpiel ſehen Sie an mir. Ich bin verheirathet und Vater von zwei kleinen Kindern. Ich wohne weit oben in der Brunnen¬ ſtraße, habe einen Weg von dreiviertel Stunden bis nach der Fabrik zurückzulegen. Seit Monaten habe ich bei Urban des Abends bis neun Uhr arbeiten müſſen. Frühmorgens, wenn ich mein Heim verlaſſe, ſchlafen meine Kinder noch und kehre ich Abends ſpät nach Hauſe, ſo liegen ſie ſchon wieder und träumen. So kam es denn, daß es mir nur alle acht Tage vergönnt war, meine Kinder ſprechen zu hören, ihnen in die Augen zu ſchauen . . .“ Eine Bewegung entſtand, und er fuhr fort: „Ja, meine Herren, wie oft kommt es nicht vor, daß wir auch des Sonn¬ tags Vormittags nach der Fabrik müſſen, weil es ſo ver¬ langt wird. Es giebt Leute, die uns Arbeitern vorhalten, wir beſäßen keine Religion, es ſtände beſſer um uns, wenn wir nach der Kirche gingen. Nun, meine Herren, man läßt uns nicht einmal Zeit zum Beten. Wir verrichten im Schweiße des Angeſichts am Sonntag Vormittag unſere Ar¬ beit und das iſt unſer Gebet . . .“ Er machte eine Pauſe. Kein lauter Beifall erſchallte diesmal, aber die allgemeine

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 290. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/302>, abgerufen am 22.11.2024.