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Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888.

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Das war ein Punkt, der allerdings zu denken gab und welcher
auch Karolinens Redseligkeit entfesselte. Was hätte Gottfried
Timpe wohl gegen die Mutterliebe einzuwenden vermocht!
In einer derartigen Situation lauteten seine letzten Worte:
"Ihr werdet's ja sehen." Dann sank das Haupt wieder auf
die Brust, hüllte der Greis sich in tiefes Schweigen.

So waren denn die Jahre vergangen. Franz hatte die
obere Sekunda-Klasse der Realschule erreicht und wurde dann
bei Ferdinand Friedrich Urban in die Lehre gebracht. Das
war bereits im Oktober des vergangenen Jahres geschehen.
Während dieser Zeit hatte er vielfach Gelegenheit gefunden,
seine Anlagen zum Leichtsinn auf's Gründlichste zu beweisen,
die Freiheit des Willens, die man ihm seit seiner frühesten
Jugend gelassen hatte, nach Kräften auszunützen. An
Bildung und Wissen seinen Eltern weit überlegen, inmitten
der Weltstadt groß geworden, gewöhnt mit gleichaltrigen Ge¬
nossen in Berührung zu kommen, deren Eltern eine andere
Lebensstellung einnahmen, als die seines Vaters war, von
dem brennenden Ehrgeize beseelt, in eine andere Sphäre der
Gesellschaft hineinzukommen -- hatte er sich mit der Zeit
Neigungen zugewendet, die ihm unzertrennbar von den
Passionen eines jungen Mannes seiner Bildung und seiner
Zukunft schienen.

Meister Timpe verweigerte seinem Sohne nichts. Er
kleidete ihn nach der neuesten Mode, er gab ihm zu dem
kleinen Monatsgehalt ein reichliches Taschengeld und empfand
einen gewissen Stolz darin, von wohlmeinenden Nachbarsleuten
die elegante Erscheinung seines Sohnes, der wie ein
"junger Graf" dahinschreite, gelobt zu wissen. Dabei übersah
er denn auch gern die "kleinen Seitensprünge" Franzens,

Kretzer, Meister Timpe. 2

Das war ein Punkt, der allerdings zu denken gab und welcher
auch Karolinens Redſeligkeit entfeſſelte. Was hätte Gottfried
Timpe wohl gegen die Mutterliebe einzuwenden vermocht!
In einer derartigen Situation lauteten ſeine letzten Worte:
„Ihr werdet's ja ſehen.“ Dann ſank das Haupt wieder auf
die Bruſt, hüllte der Greis ſich in tiefes Schweigen.

So waren denn die Jahre vergangen. Franz hatte die
obere Sekunda-Klaſſe der Realſchule erreicht und wurde dann
bei Ferdinand Friedrich Urban in die Lehre gebracht. Das
war bereits im Oktober des vergangenen Jahres geſchehen.
Während dieſer Zeit hatte er vielfach Gelegenheit gefunden,
ſeine Anlagen zum Leichtſinn auf's Gründlichſte zu beweiſen,
die Freiheit des Willens, die man ihm ſeit ſeiner früheſten
Jugend gelaſſen hatte, nach Kräften auszunützen. An
Bildung und Wiſſen ſeinen Eltern weit überlegen, inmitten
der Weltſtadt groß geworden, gewöhnt mit gleichaltrigen Ge¬
noſſen in Berührung zu kommen, deren Eltern eine andere
Lebensſtellung einnahmen, als die ſeines Vaters war, von
dem brennenden Ehrgeize beſeelt, in eine andere Sphäre der
Geſellſchaft hineinzukommen — hatte er ſich mit der Zeit
Neigungen zugewendet, die ihm unzertrennbar von den
Paſſionen eines jungen Mannes ſeiner Bildung und ſeiner
Zukunft ſchienen.

Meiſter Timpe verweigerte ſeinem Sohne nichts. Er
kleidete ihn nach der neueſten Mode, er gab ihm zu dem
kleinen Monatsgehalt ein reichliches Taſchengeld und empfand
einen gewiſſen Stolz darin, von wohlmeinenden Nachbarsleuten
die elegante Erſcheinung ſeines Sohnes, der wie ein
„junger Graf“ dahinſchreite, gelobt zu wiſſen. Dabei überſah
er denn auch gern die „kleinen Seitenſprünge“ Franzens,

Kretzer, Meiſter Timpe. 2
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[17/0029] Das war ein Punkt, der allerdings zu denken gab und welcher auch Karolinens Redſeligkeit entfeſſelte. Was hätte Gottfried Timpe wohl gegen die Mutterliebe einzuwenden vermocht! In einer derartigen Situation lauteten ſeine letzten Worte: „Ihr werdet's ja ſehen.“ Dann ſank das Haupt wieder auf die Bruſt, hüllte der Greis ſich in tiefes Schweigen. So waren denn die Jahre vergangen. Franz hatte die obere Sekunda-Klaſſe der Realſchule erreicht und wurde dann bei Ferdinand Friedrich Urban in die Lehre gebracht. Das war bereits im Oktober des vergangenen Jahres geſchehen. Während dieſer Zeit hatte er vielfach Gelegenheit gefunden, ſeine Anlagen zum Leichtſinn auf's Gründlichſte zu beweiſen, die Freiheit des Willens, die man ihm ſeit ſeiner früheſten Jugend gelaſſen hatte, nach Kräften auszunützen. An Bildung und Wiſſen ſeinen Eltern weit überlegen, inmitten der Weltſtadt groß geworden, gewöhnt mit gleichaltrigen Ge¬ noſſen in Berührung zu kommen, deren Eltern eine andere Lebensſtellung einnahmen, als die ſeines Vaters war, von dem brennenden Ehrgeize beſeelt, in eine andere Sphäre der Geſellſchaft hineinzukommen — hatte er ſich mit der Zeit Neigungen zugewendet, die ihm unzertrennbar von den Paſſionen eines jungen Mannes ſeiner Bildung und ſeiner Zukunft ſchienen. Meiſter Timpe verweigerte ſeinem Sohne nichts. Er kleidete ihn nach der neueſten Mode, er gab ihm zu dem kleinen Monatsgehalt ein reichliches Taſchengeld und empfand einen gewiſſen Stolz darin, von wohlmeinenden Nachbarsleuten die elegante Erſcheinung ſeines Sohnes, der wie ein „junger Graf“ dahinſchreite, gelobt zu wiſſen. Dabei überſah er denn auch gern die „kleinen Seitenſprünge“ Franzens, Kretzer, Meiſter Timpe. 2

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Zitationshilfe: Kretzer, Max: Meister Timpe. Berlin, 1888, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kretzer_timpe_1888/29>, abgerufen am 24.11.2024.